"Eins - zwei - drei im Sauseschritt rast die Zeit, wir rasen mit." Obwohl wir sie an nahezu allen Orten auf Uhren zu bannen versuchen, uns "Aus-Zeiten" gönnen und auf keinen Fall zu ihrem Sklaven werden wollen, herrscht unter den Jetzt-Zeit-Menschen weitgehend Einigkeit darüber, dass wir in einer Ära der allgemeinen Hektik leben, der Atemlosigkeit und Beschleunigung. Unsere Produktivität wird größer, nicht zuletzt durch eine "Verdichtung der Zeit". Selbst die Freizeit hat randvoll zu sein mit Sinn. Konkurrenz lauert überall, wichtig ist es, der Erste zu sein. Zeit ist knapp. Zeit ist Geld. Angeblich - so die offizielle Ideologie - gilt das auch für die Sendezeit in Radio oder TV.
Zeit als Sendezeit
Das Gegenteil ist richtig. Immer häufiger stellt sich Sendezeit dar wie ein Kontrapunkt zum sonstigen Zeitbudget. Sie wird schlicht verschwendet. Das könnte eine Oase der Ruhe sein, tatsächlich aber quälen sich immer mehr Sendungen zäh wie altes Kaugummi über die großzügig bemessene Zeit. Dies gilt vor allem für das so genannte "Event"-Fernsehen, das uns nicht etwa schlicht ein besonderes Ereignisse präsentiert, sondern in der Regel zunächst einmal ausführlich erklärt, warum das, was wir irgendwann demnächst zu erwarten haben, so spannungsvoll vorbereitet wird. Statt schnittiger Digitaluhren wären hier Dalis zerlaufende Ziffernblätter die angemessenen Chronometer.
Zur Person
Bernd Gäbler, geboren 1953 in Velbert/Rheinland, ist Publizist und Dozent für Journalistik. Er studierte Soziologie, Politologie, Geschichte und Pädagogik in Marburg. Bis 1997 arbeitete er beim WDR (u.a. "ZAK"), beim Hessischen Rundfunk ("Dienstags - das starke Stück der Woche"), bei VOX ("Sports-TV"), bei SAT.1 ("Schreinemakers live", "No Sports"), beim ARD-Presseclub und in der Fernseh-Chefredaktion des Hessischen Rundfunks. Bis zur Einstellung des Magazins leitete er das Medienressort der "Woche". Von 2001 bis Ende 2004 fungierte er als Geschäftsführer des Adolf-Grimme-Instituts in Marl.
Ginge es zum Beispiel bei "DSDS" (Kurzwort für "Deutschland sucht den Superstar") tatsächlich darum, Deutschlands größtes Sangestalent zu finden, täten es auch zwei Ausscheidungsrunden und entsprechende Abstimmungen. Analoges gilt für die "Topmodels". Stattdessen quälen sich diese "Selektions-Shows" von Runde zu Runde. Nur der jeweils schlechteste Kandidat darf nicht mehr mittun. Das geht so lange gut, bis die Zuschauer keine Lust mehr haben und einfach mal die beste Sängerin "wegvoten", wie dies am frühen 1. April in der RTL-Sangesshow der Fall war. Obwohl ansonsten alles verschwenderisch breitgetreten wird, blieb da plötzlich nicht einmal mehr Zeit, das blanke Entsetzen der professionellen Juroren aufzubereiten.
Dass Sendezeit Verschwendungszeit ist, kann man an beinahe jedem Sportereignis studieren. Wird angekündigt, die Übertragung des Länderspiels starte um 19.20 Uhr, lohnt es sich auf keinen Fall, vor 20 Uhr einzuschalten. Spiele der Champions-League werden ab 20.15 Uhr übertragen. Es gilt: Das Spiel dauert 90 Minuten. Eltern aber, die dem Kind erlauben, ausnahmsweise aufzubleiben, sollten wissen, dass der Schlusspfiff nicht vor 22.30 Uhr erfolgen wird. Die ARD-"Sportschau" dauert sonnabends von 18.10 bis 19.55 Uhr und berichtet netto gerade einmal 55 Minuten aus den Stadien. (Am vergangenen Sonnabend waren es exakt 53:45 Minuten)
Zeit zur Inszenierung
Natürlich dürfen und sollen die Medien mehr bieten als die nackte Darstellung der Ereignisse. Wir wollen verführt, in Spannung gehalten, vorbereitet, ja zum Höhepunkt hingeführt werden. Wer wollte das leugnen. Aber so wie es fürs Visuelle den "goldenen Schnitt" gibt, unterliegt auch unser Zeitempfinden kulturellen Traditionen. Wir erwarten eine gewisse Relation von Verpackung und Inhalt, Vorbereitung und Durchführung, Brutto und Netto. Die Fernsehmacher aber haben sich inzwischen daran gewöhnt, uns endlos zu quälen. Sie spielen mit Ankündigungen, Rückschauen, Werbeblöcken, Interviews, dehnen das Nichts schier endlos, als wüssten sie nicht, dass auch Vorlust vergeht, wenn sich Lustvolles nicht wenigstens am Horizont abzeichnet.
Raab als Parodist des Boxens
Am Freitagabend sendete Pro Sieben eine "Fight Night". Als deren Höhepunkt war ein Boxkampf der weltmeisterlichen Regina Halmich gegen den mutig sich selbst zu Markte tragenden Moderator Stefan Raab angekündigt. Vor Jahren hatte es dies schon einmal gegeben. Unter dem Aspekt der Zeit-Ökonomie konnte man diese "Fight Night" nicht nur als Parodie auf das Boxen lesen, sondern auch als Parodie auf das "Event"-Fernsehen schlechthin.
Raab als Parodist der Zeit
Die Übertragung dieser "Fight Night" begann um 20.15 Uhr. Ich vermutete, es könne angemessen sein, um 21 Uhr einmal zu schauen, ob sich ein baldiges Boxen abzeichne. Im Schnell-Lauf zeigte der Festplattenrekorder, dass es inzwischen zwei Werbeblöcke, einen Rückblick und die Ankunft der Kontrahenten gegeben hatte. Ein Boxkampf zweier Frauen war in Vorbereitung. Da schien es ausreichend, 22 Uhr als nächsten Einschaltpunkt festzulegen. In der Stunde bis 22 Uhr hatte es tatsächlich vier Minuten und 50 Sekunden Frauenboxen gegeben, ein Musikstück und Schaltungen in die Umkleidekabinen. Ein weiterer Boxkampf - diesmal von zwei unbekannten Männern - war in Vorbereitung. Würde 23 Uhr als nächster Einschaltpunkt reichen? Aber sicher! In der zurückliegenden Stunde hatte es 15 Minuten und 53 Sekunden Männerboxen gegeben - und Musik. Jetzt um 23 Uhr sang Doro Pesch, und es gab etwas Budenzauber: Regina Halmich schwebte in einem Käfig in den Ring, Stefan Raab kam mit Irokesenfrisur und per Panzer. Um 23.10 Uhr ging es tatsächlich los. Der Moderator war tapfer. Netto dauerte der Kampf wie geplant zwölf Minuten. Gegen Mitternacht endete die Sendung von brutto fast vier Stunden.
Ein Lob auf den Festplattenrekorder
Der Festplattenrekorder ermöglicht es, zugleich aufzuzeichnen und ab und an einmal zu gucken, wie denn die Dinge so stehen. Wunderbar. Die Aufzeichnung erfolgt in "Echtzeit", die Wiedergabe instant. Von der "Echo"-Verleihung habe ich nichts Wesentliches verpasst - Wiedergabezeit: zwölf Minuten. Peymann zur RAF: acht Minuten. Blüm über soziale Gerechtigkeit: vier Minuten. Es entwickelt sich sogar ein Gefühl für den tatsächlichen Start von "Live-Ereignissen". Am Sonnabend ging es im Fernsehen ab 22.15 Uhr los mit dem Maske-Kampf. Ab 23 Uhr war ich "live" dabei. Da blieb genug Zeit zur Einstimmung mit Hymnen und Pathos. Um 23.15 Uhr ging es tatsächlich los. Dieses Prinzip des "Netto"-Fernsehens löst das paradoxe Problem der gegenwärtigen Zeit - sie ist nie ausreichend da und wird dennoch wie wahnsinnig verschwendet.