Vadim ist sanft geworden. Früher, da hat er viel rumgebrüllt, hat seinen Jungs oft die Meinung gegeigt, wenn sie ihren Hintern nicht hochbekamen, wieder mal zu lahmarschig waren oder schlicht zu blöd, um zu kapieren, was er eigentlich von ihnen wollte.
"Heute kann ich mir das Rumbrüllen nicht mehr erlauben, das lassen sich meine Leute nicht gefallen", sagt Vadim Ternitski und lenkt den olivgrün lackierten Land Rover Defender durch einen Fichtenwald irgendwo in Estland. Randlose Brille, dunkler Bartschatten, blasse Gesichtsfarbe, dazu die schlanke, eher kleine Gestalt: Man könnte Vadim auch für einen Informatik-Nerd halten. Tatsächlich ist er Hauptmann der Estnischen Armee, hat lange ganz normale Berufssoldaten befehligt. Vor einigen Jahren wurde er dann zum sogenannten Kaitseliit versetzt: einem 26.000 Kopf starken Hobbyheer, das es weltweit kein zweites Mal gibt – und das ganz eigenen Gesetzen folgt.
100-köpfige Kompanien
"Meine Jungs und Mädels sind top motiviert, da kauft ihnen kein Profi den Schneid ab", versichert mir Vadim. "Aber sie machen das in ihrer Freizeit, neben Job und Familie. Sie können jedes Mal neu entscheiden, ob sie bei einer Übung dabei sein wollen. Wenn ich zu laut werde, stehe ich schnell ohne Truppe da." Genau genommen steht Vadim auch jetzt ohne Truppe da, jedenfalls für den Moment. Wir sind auf dem Weg zu einer seiner 100-köpfigen Kompanien, die gerade übt, wie man Gegner fachgerecht in einem Hinterhalt abknallt. Doch bisher ist kein einziger Kopf zu sehen, obwohl uns Google Maps schon vor einer Weile mit warmer Stimme versichert hat, wir seien am Ziel. Also kreuzen wir in Vadims altem Armee-Defender weiter durch ein Waldgebiet, von dem ich nicht einmal ungefähr sagen darf, wo es liegt – Militärgeheimnis!
Irgendwann greift der Hauptmann zu seinem Smartphone, wischt den Marvel-Comic-Bildschirmschoner weg und lässt sich von einem seiner Männer navigieren. Fünf Minuten später finden wir die Kompanie zwischen dürren Fichtenstämmen wieder. Eine der drei Einheiten – bei der Bundeswehr auch Züge genannt – macht gerade Pause. Die Leute haben sich ins weiche Moos gesetzt, Gewehre und Helme abgelegt, Proviant ausgepackt. Über unseren Köpfen zieht ein Schwarm kreischender Wildgänse vorbei. Entspannte Gespräche, Ferienlager-Flair.
"Das ist der perfekte Ausgleich zum Job", erzählt mir Peter, ein kräftiger Kerl mit grauen Strähnen im Haar und sanften, fast jugendlichen Zügen im Gesicht. Ich mag ihn gleich, bin fast ein bisschen überrascht. Bei erwachsenen Menschen, die in ihrer Freizeit regelmäßig Krieg spielen, hatte ich mit viel Machismo, Testosteronüberschuss und politisch suspekten Ansichten gerechnet. Peter scheint da aber völlig unverdächtig. Er wirkt eher wie ein guter Kumpel, der nette Nachbar, den man gern mal zum Grillen einlädt. "Ich sitze sonst viel am Schreibtisch, arbeite in der IT", erzählt er.
Einmal im Monat ruft der Kaitseliit zum Wochenendtraining, einmal im Jahr zum einwöchigen Manöver. Wer 18 Jahre alt ist, kann sich melden. Peter macht fast immer mit, hat sogar zusätzliche Wochenenden für die Ausbildung zum Unteroffizier investiert. "Zu Hause gibt es gelegentlich Diskussionen, meine Frau ist Journalistin und eher pazifistisch eingestellt", erzählt er. "Aber ich sehe das als Hobby. Ich gehe halt mit dem Kaitseliit in die Wälder, andere setzen sich lieber an den See und angeln."

Genug geredet, jetzt wird wieder trainiert, und zwar die komplette Prozedur für einen Hinterhalt: Helme mit Fichtenzweigen tarnen, zu den Waffen greifen, tief im Wald den ganzen Zug sammeln. Als Ausbilder sind heute ein paar Spezialisten der US-Armee zu Gast, sie geben den Ton an. Bei dem Szenario, das wir durchspielen, werden feindliche Soldaten erwartet. Mit ihren Gewehren im Anschlag rücken die Männer und Frauen langsam vor. Zwischenstopp, nach allen Seiten absichern, Gegend auskundschaften.
So aufregend wie Trockenschwimmen
Schließlich nehmen alle ihre exakt zugewiesenen Positionen ein. Wichtig: gute Tarnung im Gebüsch, gleichzeitig aber freie Schussbahn zur Straße! US-Ausbilder Jim, der in Wirklichkeit anders heißt, geht die Formation ab, korrigiert Details, immer mit maximal lässigem Tonfall. "Ihr müsst konzentriert bleiben. Im Ernstfall kann es dauern, bis sich der Feind zeigt. Da liegt ihr stundenlang so rum und dürft nicht einschlafen." Das Ganze zieht sich und ist ungefähr so aufregend wie Trockenschwimmen.

Dann doch noch Action: US-Spezialist Tim, echter Name ebenfalls geheim, schlendert die Straße hinab, als Stellvertreter für den Feind. Die Kaitseliit-Leute fangen an zu feuern, der Amerikaner fällt im Kugelhagel. Feuer einstellen, aufstehen, bis zur Straße rennen. Dort noch mal vier Schüsse auf den liegenden Mann, aus nächster Nähe. Sicher ist sicher, Gefangene will man nicht machen, die stören nur. Und nach der Genfer Konvention, sagt Jim, sei das so okay. In der Luft hängt der Gestank von Feuerwerk, und für einen Augenblick ist mir richtig übel. Schon klar, alles nur gespielt, geschossen wird bloß mit Platzpatronen. Trotzdem üben wir, Menschenleben möglichst effizient zu beenden. Und das ist dein liebstes Hobby, Peter?
Ich würde ihn das jetzt wirklich gern fragen, doch die Sache geht noch weiter. Jim steht auf der Straße, über seinem gefallenen Kameraden. "Manche Kämpfer sind krass mit Drogen vollgepumpt. Ihr glaubt gar nicht, was die alles überleben." Scheinbar leblosen Körpern, erklärt Jim, soll man sich deshalb nur mit großer Vorsicht nähern, und nur zu zweit. "Einer sichert ab, der andere rammt dem Kerl ein Knie in die Eier." Als sogenannter Dead Check sei die Methode unschlagbar. "So tot kann sich keiner stellen, dass er da nicht zusammenzucken würde." Schließlich dreht man den Körper auf die Seite, im schlimmsten Fall kommt dabei aber eine entsicherte Handgranate zum Vorschein. "Leute sind Arschlöcher", sagt Jim. "Die versuchen, dich auf jede mögliche Art zu killen."

Abends fährt die Kompanie in das Kulturzentrum einer estnischen Kleinstadt. Den grauen Betonblock aus sowjetischer Zeit hat sie zum Hauptquartier für ihr Manöver umfunktioniert. Der Bankettsaal dient als Schlaflager, riecht nach Schweiß und dem Leder der Springerstiefel, die am Eingang parkettschonend auf Pappen stehen. Ich habe Glück, werde separat im Übungsraum des städtischen Chors einquartiert, gemeinsam mit Vadim und zwei weiteren Offizieren.
Lust am Rumballern?
Ich erkunde das Gebäude, treffe auf ein paar Hobbysoldaten, die unten in der Lobby gerade ihre Gewehre zerlegen. Zwischen mehreren Männern in olivgrüner Uniform hockt eine zierliche Frau mit langen, knallroten Haaren. Kaili, die im echten Leben als Kellnerin arbeitet, hat sich umgezogen, trägt Leggings und rosa Badelatschen. "Ich bin erst seit ein paar Monaten in der Kompanie", sagt sie und führt trotzdem routiniert eine lange, schmale Spezialbürste in den Lauf ihres Gewehres ein. "Vorher war ich bei der Naiskodukaitse, der Frauenorganisation des Kaitseliit. Aber da wird immer nur gekocht, gebacken und genäht. Das war mir zu langweilig, beim Kaitseliit ist mehr los."

Ihr gegenüber sitzt ein drahtiger Mann mit langer Mähne und rotblondem Zottelbart: Madis verdient sein Geld als Wildnisführer, sieht auch genauso aus. Wie er zum Kaitseliit gekommen ist? "Ich liebe es, da draußen zu sein. Tief in den Wäldern, bei klirrender Kälte, im tiefsten Schnee", erklärt er. "Das ist halt ein Hobby, ein Abenteuer."
Wälder? Wildnis? Abenteuer? So spricht hier scheinbar jeder Zweite. Schön und gut, aber wir sind nicht bei den Pfadfindern, sondern – Hobby hin oder her – letztlich doch beim Militär. Was ist denn mit der Lust am Rumballern? Oder sorgen sich die Leute etwa ernsthaft um ihr Land? Madis wird einsilbig: "Das darf ich nicht sagen. Anweisung von oben."
Eine Antwort, die ich in leichten Varianten immer wieder zu hören bekomme, manchmal noch ergänzt um ein paar düstere Andeutungen. "Sagen wir es mal so", meint Peter, der nette Kumpeltyp von vorhin: "Früher habe ich mich mit meinen Jungs zum Gotcha-Spielen getroffen. Dann ging die Ukraine-Krise los, die Russen sind auf der Krim einmarschiert. Kurz darauf ist unser Team fast geschlossen dem Kaitseliit beigetreten."
Deutlicher will auch er nicht werden. Deutlicher werden aber die Zahlen: Fast 300 Kilometer lang zieht sich die Grenze zwischen der Atommacht Russland und dem winzigen Estland, das weniger als halb so viele Einwohner hat (rund 1,3 Millionen) wie die russischen Streitkräfte Soldaten (rund 3,5 Millionen, inklusive Reservisten). Bis 1991 gehörte Estland zwangsweise zur Sowjetunion, fast in jeder Familie gibt es einen Onkel, Opa, Schwippschwager, der deportiert wurde, im Gulag verschwand, nie mehr wiederkehrte, oder bloß noch als traurige, gebrochene Gestalt. Vielleicht ist es da kein Wunder, dass man heute wieder bang gen Osten blickt. Und sich dann lieber einer Art freiwilligen Bundeswehr anschließt als der freiwilligen Feuerwehr: Was zählt schon ein abgebranntes Haus, wenn auch das ganze Land in Flammen stehen könnte?

Zum Frühstück am nächsten Morgen kommt heiß dampfender Haferbrei aus der Feldküche. Auf einer der Bierbänke vor dem Sowjetbetonblock löffele ich meine Campingschüssel leer. Neben mir sitzt ein Mann mit Wuschelhaaren und dicker Holzgestellbrille. Andres, so heißt er, erzählt von seiner Zeit in einer portugiesischen Hippie-Kommune, von seinem aktuellen Job als Industriekletterer. Dann will er wissen, weshalb sich ein deutsches Magazin denn ausgerechnet für den kleinen Kaitseliit interessiert. Ich erzähle ihm, dass es in Deutschland weder Freizeitsoldaten noch Hobbyheere gibt, dass wir das Militärische eigentlich ganz gern den Profis überlassen. Und dass der Gedanke an einen Krieg wahrscheinlich das letzte wäre, was uns gerade ernsthaft Angst machen würde.
Nicht tatenlos zusehen, wenn Estland überfallen wird
Andres hört stumm zu, nickt nachdenklich: "Mann, ich wünschte, wir bräuchten den Kaitseliit nicht. Ganz ehrlich, ich wünschte, wir lebten in einer Welt, in der sich Menschen nicht gegenseitig töten." Er wird leise, presst seine Lippen aufeinander, wirkt wehmütig. Dann schaut er mir in die Augen, mit entschlossenem Blick. "Aber die Welt, in der wir leben, ist eben eine andere. Wenn mein Land überfallen wird, sehe ich nicht tatenlos zu."
In der Welt, in der er lebt, wird nach dem Frühstück Straßen- und Häuserkampf trainiert. Die US-Ausbilder stehen an Flipcharts, erklären anhand von Skizzen und Spiegelstrichen, wie man Häuser stürmt, Städte sichert, Checkpoints aufbaut. Vom Nachbargrundstück aus schaut ein Schäferhund mit wedelndem Schwanz dem Geschehen zu. Ein Rentner schiebt seinen Rollator durch die Absperrung. Zwei Mädchen, blonde Zöpfe, in niedlichen Micky-Maus-Hosen, wagen sich sogar bis zum improvisierten Kaitseliit-Infostand vor. Sie dürfen gleich ran ans Scharfschützengewehr, das ihnen vom Fuß bis fast zum Kopf reicht. Anlegen, durch den Sucher gucken, zielen.
In der Welt, in der Andres lebt, schmieren sich die beiden Mädchen jetzt gegenseitig grüne Tarnfarbe ins Gesicht. Sie schauen sich erst ganz ernst an, kichern dann gleichzeitig los. Und rennen zur Schaukel auf dem nahen Spielplatz.
Diese Geschichte stammt aus der 15. Ausgabe von JWD – Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Zu kaufen auch hier.