Ob Barcelona, Amsterdam, Prag oder Lissabon – Städtetrips erfreuen sich einer wahnsinnigen Beliebtheit? Das Problem ist: Die bei Touristen besonders beliebten Städte, zu denen beispielsweise auch Rom und Venedig gehören, werden regelmäßig von wahren Touristenfluten überschwemmt und gehen langsam aber sicher in ihnen unter.
Wer jetzt glaubt, dass das Problem mit "Urlaub vor der Haustür" zu lösen ist, liegt damit aber leider auch falsch. Denn auch Deutschlands beliebteste Reiseziele leiden massiv unter dem kaum zu bändigenden Ansturm, der sie jedes Jahr aufs Neue zu überrollen droht. Ein besonders gutes Beispiel: Sylt. Die Nordseeinsel ist seit Jahrzehnten das Reiseziel der Deutschen, wenn es darum geht, den Sommer mit der Familie am Strand zu verbringen, im Winter dick eingepackt durch die Strandstraße zu spazieren und einen Glühwein zu trinken, oder auch einfach für ein fixes Wochenende in die Sansibar in Rantum zu jetten.
Auf Sylt treffen 952.000 Gäste auf 18.000 Einwohner
Rund 952.108 Gäste trieb es im Jahre 2017 laut der Sylt Marketing GmbH auf die Insel. Sie blieben im Schnitt 7,45 Tage und verbrachten insgesamt 7.093.536 Nächte auf der keine 100 Quadratkilometer großen Nordeseeinsel, die Stand 2014 nur knapp unter 18.000 Einwohner hat. Im Vergleich: 1990 waren es mit 521.835 Gästen noch über 400.000 weniger.
Doch auch, wenn es am Strand immer enger wird, gibt es noch Leute, die dauerhaft auf der Insel verweilen. Kerstin ist eine von ihnen. Ihr Mann ist geborener Sylter, zog zwar nach dem Schulabschluss aufs Festland, verbrachte aber trotzdem jede freie Minute an seiner geliebten Nordsee – natürlich mit seiner Frau. Vor etwa eineinhalb Jahren entschieden sich die beiden ihren Wohnsitz von Hamburg wieder komplett nach Sylt zu verlagern. Und mussten festzustellen, dass die Insel vom Tourismus überlastet ist: "Alles ist immer überfüllt, die Züge, die Ferienwohnungen. Und die Leute, die hier arbeiten, die können es sich nicht leisten, hier zu leben. Die Geschäfte finden kaum noch Angestellte, weil niemand Lust hat zu pendeln, um dann für Touristen zu arbeiten."

Unfreundlichkeit sei ein großes Problem. Es sei keine Seltenheit, dass die Mitarbeiter von Läden und Restaurants von oben herab behandelt würden: "Es heißt dann gerne 'Ich komme aber schon seit 30 Jahren her'. Aber nur, weil ich irgendwo schon so und so lange regelmäßig zu Besuch bin, heißt das ja nicht, dass ich mich verhalten kann, als gehöre mir der Laden." Die freiberufliche Lektorin würde sich wünschen, dass sich die Menschen wieder mehr wie Gäste verhalten würden: "Ich würde doch auch als Gast irgendwo nicht als erstes meine Füße auf den Tisch legen oder meine gebrauchten Taschentücher in die Gegend werfen. Ja, die geben für den Urlaub viel Geld aus, aber das heißt doch nicht, dass sie sich das Recht erkaufen, alles zu versauen, das Kliff rauf und runter zu rennen, sich nicht an Schilder zu halten, die Hunde unangeleint laufen zu lassen oder in die Dünen zu klettern – Naturschutzgebiete sind aus gutem Grund Naturschutzgebiete."
"Das Geld verdienen nicht die Insulaner, sondern die reichen Leute aus Düsseldorf"
Eine weitere, bekannte Konsequenz aus den Touristenströmen: Bezahlbare Wohnungen werden knapp, weil alles als Ferienwohnung vermietet wird.
Auf Sylt bezahlbaren Wohnraum zu finden, das mussten Kerstin und ihr Mann schmerzlich am eigenen Leib erfahren, ist quasi nicht mehr möglich: "Es gibt sehr viele Zweitwohnsitze auf Sylt. Die Leute wollen Geld verdienen oder ihr Geld so anlegen, dass sie nicht so viele Guthaben-Zinsen zahlen müssen – die kaufen dann Immobilien und sind dann aber nicht da. Und die Sylter, die was zum Wohnen suchen, kommen an diese Häuser nicht mehr ran, weil die quasi on hold stehen. Oder die Leute vermieten die Häuser und machen damit richtig Kohle. Aber nicht die Insulaner, sondern die reichen Leute aus Düsseldorf, die sich mit acht Parteien so ein Haus gekauft haben." Hier würden sich die Gäste dann quasi die Klinke in die Hand geben, es herrsche ein dauerhafter Wechsel. Das führe dann unter anderem dazu, dass Einheimische wie sie gefragt würden, ob sie zum Housekeeping gehören. Dass es vielleicht noch Menschen geben könnte, die nicht existieren, um den Urlaubsaufenthalt der Gäste so entspannt wie möglich zu gestalten, das könne sich manch einer nicht vorstellen.
Das äußert sich auch in Kerstins persönlichem Lieblingsärgernis: "Wenn die auf der Landstraße 40 fahren, weil sie ja gerne gucken wollen, wie hübsch das da ist, dann kriege ich einen Hals. Andere Leute haben was zu tun auf der Insel, wir haben nicht alle Urlaub. Wir können nicht alle im Schritttempo lächeln und die Wiesen angucken."
Wenn es so weitergeht, hat Sylt bald kein Grundwasser mehr
Während also mit weiteren Neubauten und Ferienwohnungen immer mehr dafür getan wird, dass es für Urlauber noch einfacher wird, auf der Insel eine Bleibe zu finden, wird das tatsächliche Leben auf Sylt für den Otto Normalverbraucher immer schwieriger. 2014 schloss beispielsweise unter viel Protest die Entbindungsstation der Asklepios Nordseeklinik in Westerland ihre Tore. Seither sind schwangere Sylterinnen gezwungen, ein paar Wochen vor der Geburt in sogenannte Boarding-Häuser auf dem Festland zu ziehen. Oder ihr Kind auf dem Autozug zu bekommen, wie es beispielsweise Christin Wolter 2016 tat: "Als wir zu Hause losfuhren, dachte ich, wir würden es noch bis Husum schaffen, doch auf dem Hindenburgdamm war mir klar, es geht los", so die junge Mutter damals zur "Sylter Rundschau".
Um wenigstens noch ein bisschen normales Leben auf der Insel zu gewährleisten und sie außerdem vor dem Tourismus-Kollaps zu schützen, gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit, findet Kerstin: "Die Gästezahl muss begrenzt werden – und die Autozahl sowieso! Man müsste eine Regelung finden, bei der eben, wenn das Maximum erreicht ist, nur noch so viele Autos auf die Insel dürfen, wie runtergefahren sind. Im Grunde wie in jedem guten Club – da muss ja auch für Sicherheit gesorgt werden. Es sind einfach zu viele Menschen." Das äußert sich inzwischen auch in der Grundversorgung der Insel: "Dann ist das Wetter gut und die duschen drei Mal am Tag und schon kriegen wir ein Problem mit unserer Grundwasserblase. Wenn der Spiegel zu sehr absinkt und das Meerwasser da reinläuft, dann war es das mit dem Grundwasser."
Diese Ansicht teilen auch die Sylter Grünen: "Dass die Sylter Wasserversorgung mit den bestehenden Brunnen und 'wenn keine weiteren Hotelbauten hinzukommen' (EVS [Energieversorgung Sylt; Anm.d.Red.]) nur noch für etwa fünf Jahre gewährleistet sei, hatte die EVS im vergangenen Sommer bereits auf eine Anfrage der Grünen im Umweltausschuss bekannt gegeben", heißt es in einem Statement aus dem Sommer 2018. Seit 2013 soll die Trinkwasserförderung auf der Insel um fast 230.000 Kubikmeter pro Jahr angestiegen sein.

"Die Leute kommen für eine Woche, vielleicht mal zwei. Aber wenn du immer nur so kurz da bist, wächst da nicht so eine Liebe und Zuneigung – und vor allem kein Verantwortungsgefühl", so Kerstin. "Auf Island oder so gibt es garantiert die gleichen Probleme, aber es fällt nicht so auf, weil es weitläufiger ist. Das hier sind geballte Massen über einen langen Zeitraum. Früher war hier im Winter nichts los, das ist ja schon lange vorbei."
Dass fast jeder Insulaner direkt oder indirekt vom Tourismus lebt, ist Kerstin zwar klar – "Wenn wir das nicht hätten, gäbe es ein echtes Problem" –, aber: "Das rechtfertigt noch lange nicht, dass die Leute sich verhalten, als wären sie was Besseres – und als wären sie keine Gäste. Denn das sind und bleiben sie. Ob wir nun davon leben oder nicht."
Quellen: "Sylter Rundschau" / "Sylter Grüne" / "Sylt Marketing" / Nikolas Häckel, Bürgermeister Gemeinde Sylt, auf Anfrage