In diesen Tagen stehen sie überall für ihn auf. "We want Dirk", rufen sie. In der heimischen Arena, dem American Airlines Center in Dallas, mag Dirk Nowitzki die Standing Ovations vielleicht gewohnt sein. Aber in Boston, Indianapolis, New York – in all den Ostküstenstädten, in denen der Würzburger mit seinen Mavericks nur einmal pro Saison zum Gastspiel aufläuft – ist es schon eine spezielle Geste, wenn sich das Publikum für den Gegner erhebt.
Es ist das Jubliäumsjahr des Dirk Nowitzki, der vor genau 20 Jahren, am 5. Februar 1999, als spargeldünner Deutscher sein Debüt in der besten Basketball-Liga der Welt gab. Damals verloren er und die Mavericks mit 86:92 gegen die Seattle Supersonics.
In einer Reihe mit Schmeling und Schumacher
Heute ist er eine lebende Legende, die eine ganze Sportart verändert hat – das wissen auch die Fans der Konkurrenz. Und weil es schwer danach aussieht, dass sich Nowitzki in dieser Saison auf Abschiedstour durch die Arenen der Liga befindet, erweisen sie ihm im ganzen Land die Ehre.
Sie alle wissen um den immensen Einfluss des "Dunking Deutschman" auf die NBA und den Basketball, und auf ihre Weise haben sie der Sport-Community in seiner Heimat damit einiges voraus. Denn auch wenn man sich hierzulande durchaus gerne mit dem bescheidenen Botschafter des Basketballs schmückt, wird die kaum fassbare Lebensleistung des Würzburgers doch viel zu selten mit der gebotenen Tiefe gewürdigt. Klar, Nowitzki durfte bei den Olympischen Spielen 2008 die Fahne tragen und wurde 2011 zum Sportler des Jahres gekürt – aber kann das wirklich alles sein?
Ist sein Vermächtnis nicht viel größer als den meisten Sportfans bewusst ist? Muss die Debatte um den größten deutschen Sportler nicht gerade wegen Nowitzki neu geführt werden? Wir finden: Der 40-Jährige gehört im gleichen Atemzug genannt wie die Allergrößten, wie Schmeling und Schumacher, wie Becker und Beckenbauer – und in dieser Riege im Rennen um den deutschen GOAT ("Greatest Of All Time") gebührt ihm vielleicht sogar der Spitzenplatz.
Dirk Nowitzki: Idol, Pionier, Trendsetter
Warum? Weil er zwar keinerlei Starallüren pflegt, aber zahlreiche Vorzüge eines absoluten Superstars auf sich vereint. Dirk Nowitzki ist:
Pionier
Europäer haben es in der NBA traditionell schwer. Vor Nowitzki schafften es selbst die begabtesten Spieler des alten Kontinents nur selten überhaupt in die Liga – erfolgreiche Ausnahmen wie Vlade Divac, Toni Kukoc oder der früh verstorbene Drazen Petrovic bestätigen die Regel. Auch weil Nowitzki ihnen in zwei Jahrzehnten den Weg geebnet hat, wimmelt es inzwischen nur so vor europäischen Schlüsselspielern, nicht zuletzt auch in Reihen der Mavericks, wo der slowenische Rookie Luka Doncic eine ganz starke Saison spielt.
Noch bemerkenswerter ist, dass Nowitzki in seiner Ära die Statik des Spiels und die Art und Weise, wie Basketball verstanden wird, weiterentwickelt hat: In seiner Anfangszeit galt Nowitzki für einen Spieler auf seiner Position, einen Power Forward in der NBA, als viel zu dünn und nicht konkurrenzfähig im Vergleich zu kompromisslosen Bullen wie den damaligen Platzhirschen vom Kaliber eines Karl Malone oder Charles Oakley.
Es war nicht abzusehen, dass Nowitzkis Spiel schon bald eine Revolution anzetteln würde, aber: Der Lange war variabler als der Rest, traf regelmäßig aus der Distanz, sogar Drei-Punkte-Würfe, und war trotzdem auch unter dem Korb eine Bank. Heute gilt diese Flexibilität in der ganzen Liga als Standard, in manchen Teams wechseln gar alle fünf Spieler die Positionen, und alle können werfen. "Es ist unwahrscheinlich, dass diese Entwicklung ohne Dirk so schnell passiert wäre", sagt Mavericks-Coach Rick Carlisle. "Er hat das Spiel verändert."
Trendsetter
Nowitzki hat etwas geschafft, was nur den ganz Großen vorbehalten ist: einen Trademark-Move, so wie Kareem Abdul-Jabbars Hakenwurf oder Michael Jordans Jumpman. Nowitzkis einbeiniger Sprungwurf im Rückwärtsfallen, der one-legged fadeaway, gilt auch nach all den Jahren als nicht zu verteidigen und wurde längst von anderen Superstars wie LeBron James oder Kevin Durant kopiert und in ihr Repertoire aufgenommen.
Nowitzki selbst spielt die Bedeutung seines Sprungwurfs, wie es nunmal seine Art ist, herunter – so schwer sei der Wurf gar nicht: "Er ist nicht wie Kareems Skyhook oder etwas, das sonst nie wieder gemacht wurde." Das sieht zum Beispiel DeMarcus Cousins, Center beim NBA-Champion Golden State Warriors, ein bisschen anders. Dirk sei für immer der Erfinder dieses Shots und jeder wüsste das: "Ich glaube, es ist der perfekte Wurf."
Leader
Dirk Nowitzki trägt genau einen Ring, den jeder NBA-Champion für den Meistertitel erhält. "Nur einen?", könnten ahnungslose Ketzer fragen, wenn sie die Vergleichswerte der Größten der Geschichte heranziehen. Immerhin hat Michael Jordan sechs Meistertitel errungen, Kobe Bryant derer fünf, LeBron James immerhin drei.
Aber abgesehen von der Tatsache, dass es viele legendäre Spieler ohne jeden Ring am Finger gibt (man frage nur nach bei Karl Malone, Charles Barkley oder Patrick Ewing), gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen Dirks einzigartigem Titel und dem Rest: Jordan und Bryant hatten fantastische Mitspieler an ihrer Seite, Magic Johnson oder Larry Bird früher ebenfalls. Längst wechseln viele Spieler relativ schamlos zum besser besetzten Team, um sich weitere Meisterschaften auf den Briefkopf stempeln zu können – siehe LeBron und sein damaliger Trade nach Miami, siehe auch Kevin Durant und die Warriors, deren Kader seit einiger Zeit ohnehin schon eher einer All-Star-Truppe ähnelt als einem "normalen" NBA-Kader.
Nowitzki spielt seit 20 Jahren nur für denselben Klub: die Dallas Mavericks, die bei seiner Ankunft Ende der 90er zu den schwächsten Franchises im gesamten US-Sport zählten. Er hat nie den bequemen Weg gewählt und sich dem nächstbesten Titelanwärter angeschlossen, auch nicht nach dramatischen Rückschlägen wie der Niederlage in den Finals 2006 gegen die Heat (nachdem die Mavs bereits mit zwei Siegen in Führung gelegen hatten) oder dem Erstrunden-Aus in den Playoffs 2007 (als punktbestes Team der Vorrunde).
Stattdessen wurde Dirk Nowitzki kurz vor seinem 33. Geburtstag im Juni 2011, am Ende eines legendären Play-off-Laufs, durch einen 4:2-Finalsieg gegen Miami Meister mit den Mavericks – als Leader eines mittelmäßigen Kaders, in dem der alternde Jason Kidd sowie Jason Terry noch die solidesten Sidekicks des Deutschen waren.
Rekordjäger
Nowitzki spielt seine 21. NBA-Saison, das haben vor ihm nur vier andere Spieler geschafft: Robert Parish, Kevin Willis, Kevin Garnett, Vince Carter – allerdings keiner von ihnen bei nur einem einzigen Verein. Nowitzki liegt mit über 31.000 Punkten auf Platz 7 der ewigen Scorer-Rangliste der NBA, hat als einer von acht Spielern mehr als 11.000 Würfe aus dem Feld verwandelt und mit fast 1500 Partien die viertmeisten Spiele in der Geschichte der Liga absolviert.
Idol
In der grellen Glitzerwelt des US-Sports kommt Nowitzki bis heute wie ein Exot daher. Seine Bescheidenheit ist fast sprichwörtlich. In Dallas lieben sie ihren "Big German" dafür. Es gibt keinen Mavs-Mitarbeiter, der nicht über die Umgänglichkeit von "Dirkules" ins Schwärmen gerät. Jedes Jahr kurz vor Weihnachten besucht Nowitzki mit einem Sack voller Geschenke das Kinderkrankenhaus der Stadt – und es versteht sich von selbst, dass er dabei in der Regel keine Fotos und Videos erlaubt. Einen besseren deutschen Botschafter hat es mindestens in Texas noch nicht gegeben.
Donnie Nelson, General Manager der Mavericks, hat Nowitzki 1998 in die Stadt geholt. Heute sagt er: "Dirk hat Dallas verändert, ökonomisch und kulturell. Die Mentalität. Er verdient ein Denkmal, ganz einfach." Sie werden es ihm irgendwann bauen, vielleicht auf den Platz direkt vor der Arena. Aber eins ist klar: In Deutschland hätte Dirk Nowitzki so ein Denkmal ebenfalls verdient.
