Das Bild hat sich auf ewig eingebrannt: Straßenkinder mit zugefrorenen Nasenlöchern, die bei minus 23 Grad in der Fußgängerzone von Brasov (Rumänien) lauthals singen, um etwas Geld zu erbetteln. Daneben – wie in vielen europäischen Großstädten – Luxusgeschäfte und Fastfood-Ketten. Unerträgliche Gegensätze.
In den ärmlichen Dörfern rund um die Stadt Brasov sind die Zustände dramatisch: Plötzlich gibt es nur noch Pferdefuhrwerke und kaputte Häuser, teilweise sogar Behausungen ohne Fenster, wo auf zehn Quadratmetern acht Menschen leben. Darunter zum Beispiel auch eine 15-Jährige mit zwei eigenen Kindern auf dem Arm. Tagsüber werden die Matratzen in einer Ecke gestapelt. Kinder gehen im Schichtbetrieb zur Schule, weil Kleidung und Schuhe fehlen.
Nach 26 Stunden Fahrt ist man in einer anderen Welt
„Das erwartet man in einem EU-Mitgliedsland nicht“, sagt Markus Vähning (47), der erste Vorsitzende von Helping Hands e.V. „26 Stunden Fahrt, und man ist in einer anderen Welt.“
Seit 1997 gibt es den Verein im Emsland. Gegründet wurde er von Hansi Brake und seiner Frau Roswitha. Seitdem werden regelmäßig Hilfstransporte nach Rumänien, in die Ukraine und nach Moldawien organisiert, um die bedürftige Bevölkerung dort mit lebensnotwendigen Gütern zu versorgen. Dazu gehören Kleider- und Lebensmittelspenden, aber auch Krankenhausausstattung sowie Spielzeug. 40 Ehrenamtliche helfen dabei.
Durch die Corona-Krise haben sehr viele Menschen in Osteuropa ihre finanzielle Absicherung verloren. Tagelöhner, Geringverdiener und alte oder kranke Menschen haben plötzlich gar kein Einkommen mehr. Die Folgen: bittere Armut und Hunger. Aktuell werden vor allem Lebensmittelspenden benötigt.
Emsländer machen Heimkindern eine Weihnachtsfreude
Gerade hat der 19. LKW voll beladen mit Hilfsgütern den Gewerbehof von Helping Hands e.V. in Lathen (Niedersachsen) in Richtung Rumänien verlassen. Zufrieden schließt Markus Vähning das große Tor. Doch zum Beinehochlegen bleibt keine Zeit, denn die nächste Aktion wartet schon: Die Weihnachtshilfe in Form von gepackten Schuhkartons mit Zahnbürsten, Zahnpasta, Süßigkeiten, Tee und Nudeln. Nach einem Online-Spendenaufruf letztes Jahr konnten sich die Mitglieder von Helping Hands vor Paketen kaum retten – 18.500 Päckchen wurden von den Emsländern abgegeben und an Kinder und Alte in Rumänien verteilt.
„Die Hilfsbereitschaft in unserer Heimat ist riesengroß. Das rührt und immer wieder“, berichtet Roswitha Brake (55). „Wenn wir mit den LKWs in Rumänien auftauchen, herrscht jedes Mal Volksfeststimmung! Die Dankbarkeit ist überwältigend.“
Im Oktober 2018 haben die „helfenden Hände“ sogar einen Hilfstransport mit zehn LKWs nach Rumänien organisiert. Alles mit Speditionen und LKW-Fahrern aus dem Emsland. Die Hilfsgüter gingen in die Orte Tichendeal, Fofeldea in der Nähe von der Stadt Sibiu. Außerdem nach Apaza, Augustin, Ormenis in der Nähe der Stadt Brasov.
„Es war ein großes Spektakel, als die schwer beladenen LKWs aus Deutschland hupend hintereinander in die Dörfer fuhren“, erinnert sich Markus Vähning. „Alle Beteiligten waren begeistert und tief berührt. Drei LKWs fuhren zum Kinder- und Seniorenheim Provita in Plopului. Im Herbst 2019 haben wir auch einen Transport mit sechs LKWs nach Moldawien organisiert.“
„Wirklich erstaunlich, was 1996 aus einer Bierlaune mit meinem Mann und meinem Bruder entstanden ist“, resümiert die Krankenschwester Roswitha Brake.
Damals saßen sie in der Tennishalle in Dörpen (Niedersachsen) und erzählten sich Geschichten über Hilfstransporte. Hansi Brake hatte als Rettungssanitäter beim Deutschen Roten Kreuz mehrere Transporte nach Tschernobyl in Weißrussland gemacht. „In Rumänien sind die Leute noch viel schlechter dran“, erzählte er seinem Schwager Hermann Poker. Nach mehreren Bierchen waren sie so weit: „Wir haben schon bewiesen, dass wir das können, also fahren wir nach Rumänien!“ schlug Hansi Brake vor.
Geht nicht, gab’s nicht bei Hansi
Er schrieb Botschaften an, um mit den Behörden in Rumänien in Kontakt zu kommen, denn trotz aller guten Absichten darf man nicht einfach mit einem Hilfstransport ins Land fahren. Das geht nur, wenn man mit einer Stiftung zusammenarbeitet. Doch von den Botschaften kam keine Hilfe. Da rief Hansi Brake kurzerhand beim berühmtesten Rumänen in Monaco an: Ion Tiriak. Der ehemalige Manager von Boris Becker wusste Rat, denn sein Cousin leitete solch eine Stiftung. Später übernahm der Dolmetscher Catalin Dascalu diese Aufgabe und wurde zu einem engen Freund von Helping Hands.
Seitdem werden Monat für Monat von den Emsländern Geld- und Sachspenden gesammelt, Kartons gepackt und Paletten beladen. Bis zu 100 Tonnen Hilfsgüter werden innerhalb von einer Woche in mittlerweile sieben rumänischen Dörfern verteilt. Ein Engagement für das dem früheren Vereinschef Hansi Brake 2016 die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland von Bundespräsident Joachim Gauck verliehen wurde. Ein großer Moment für alle „helfenden Hände“. Umso dramatischer der Tod ihres charismatischen Chefs. Hansi Brake (63) starb überraschend Anfang dieses Jahres. Doch der Verein macht weiter. Schließlich wird die Hilfe in den osteuropäischen Dörfern weiterhin dringend gebraucht.
Nach der anstrengenden Fahrt kam die Schikane an der Grenze
Neuer Chef ist Markus Vähning. Er ist seit 2003 bei Helping Hands und arbeitet hauptberuflich als Sachbearbeiter in einer Papierfabrik. Er erinnert sich noch gut an seine Anfänge beim Verein: „Hansi und ich entwickelten damals ein Punktesystem und kategorisierten die bedürftigsten Dörfer auf einer Rundreise. Zuerst fuhren wir mit Bullis, Anhängern und kleinen LKWs nach Osteuropa. Die Straßen waren sehr schlecht und nach über 30 Stunden Fahrt im Hochsommer bei glühender Hitze wartete an der Grenze die größte Geduldsprobe auf uns: Wir wurden aus Schikane acht Stunden aufgehalten und vom Zoll gefilzt. Danach war Schichtwechsel und alles begann von vorn. Später haben wir zusätzlich Fahrräder eingeladen, um die Zöllner damit zu beschwichtigen. Seit 2007 ist Rumänien in der EU und damit wurde alles besser.“
Gisela Rogowski ist Bürokauffrau und unterstützt den Verein jeden Montag für zwei Stunden. Sie war schon in Rumänien und auch in Moldawien, das vor zwei Jahren dazugekommen ist. „Man muss einfach mal mitfahren“, sagt die 50-Jährige. „Denn Armut riechen und spüren ist etwas anderes, als Armut nur auf einem Foto zu sehen. Da weiß man, wofür man das macht.“
Gisela kümmert sich um den Papierkram, Ladelisten, Frachtpapiere in zwei Sprachen. Dabei hilft ihr Svetlana Keller (46). Sie spricht Russisch und managt alles andere bei Helping Hands. Auch ihr imponiert die Freude und Dankbarkeit der Leute. „Manchmal waren wir so kaputt und haben uns gefragt: ,Warum tun wir uns das alles an?‘ Und dann die anstrengende Rückfahrt! Aber kaum waren wir wieder zu Hause, haben wir gleich Listen gemacht, wer was braucht in dem Land.“
Einmal haben sie zum Beispiel ein Feuerwehrauto mit vollem Equipment von ihren Spendengeldern gekauft. Danach wurden junge Rumänen darauf geschult und jetzt haben die Dörfer dort eine gut funktionierende Feuerwehr. Eine Emsländerin spendete das Handwerkszeug ihres verstorbenen Mannes. Nun gibt es eine Tischlerwerkstatt. Andere brachten Nähmaschinen – alles Dinge, die Menschen in Rumänien und Moldawien gut gebrauchen können. Gegenstände, die wir nicht mehr haben wollen, werden dort im besten Sinne recycelt.
Sie arbeiten schon für ein kleines Lächeln
„Die Gastfreundschaft der Rumänen ist unglaublich“, hat Markus Vähning erfahren. „Obwohl sie selbst kaum etwas haben, teilen sie alles. So viel Herzlichkeit und Dankbarkeit habe ich selten erlebt. Wir kehren jedes Mal sehr demütig nach Hause zurück.“
Auch den Helfern wurde geholfen: Bei einer Autopanne waren sofort Mechaniker zur Stelle und als einem LKW-Fahrer ein Zahn abgebrochen war, fand sich ruck, zuck ein Dentist, um ihn zu kleben. „Die Leute haben gelernt zusammenzuhalten und zu improvisieren“, sagt Roswitha Brake. „Das Feiern mit selbst gebranntem Schnaps gehört immer dazu. Wir haben dort schon tolle Feste erlebt, zu denen jeder etwas mitgebracht hat.“
Auch in diesem Jahr hoffen die Mitglieder von Helping Hands e.V. auf viele gepackte Schuhkartons, die zu Weihnachten an die Bedürftigen verteilt werden. Der Inhalt sollte für Kinder, aber auch für Senioren geeignet sein.