Das Elite-Internat liegt idyllisch. Die Odenwaldschule im südhessischen Heppenheim hat sich einen in die Zukunft weisenden Satz des griechischen Philosophen Pindar zum Leitwort gewählt: "Werde, wer du bist." Nach dem Bekanntwerden von Fällen massiven sexuellen Missbrauchs an Schülern geht kurz vor der 100-Jahr-Feier der Blick nicht nur aus Gründen des Jubiläums zurück. Dabei heißt es eher: Wissen, was geschehen ist.
"Wir sind seit Sommer vergangenen Jahres in Kontakt zu ehemaligen Schülern, die uns von Missbrauchsfällen in großem Ausmaß berichtet haben", sagte die Schulleiterin Margarita Kaufmann am Sonntag. "Ich kann nicht sagen, was da noch kommt. Wir haben die große Befürchtung, dass es tatsächlich mehr sind als die Namen, die wir bis jetzt kennen." Die Rektorin geht davon aus, dass sich mindestens drei Lehrer sexueller Übergriffe schuldig gemacht haben, nach Informationen der "Frankfurter Rundschau" könnte es zwischen 1971 und 1985 bis zu 100 Opfer gegeben haben.
Die Schulleitung will nun systematisch Schüler der betroffenen Jahrgänge anschreiben. Am Montag würden Briefe an alle 900 Altschüler versandt, die zur fraglichen Zeit an der Schule waren. "Wir haben auch eine Anwältin gefunden, die sich bereit erklärt hat, uns zu begleiten", sagte Kaufmann.
Schulkonzept zog berühmte Namen an
"Die Odenwaldschule, ein zweites Zuhause", heißt auf der Internet-Seite der privaten Lehr-Einrichtung. "Fühle Dich geborgen. Schüler und Lehrer leben zusammen unter einem Dach im selben Haus, auf demselben Flur, essen zusammen und: sie duzen sich." Dieses Konzept zog schon berühmte Namen an, etwa den Schriftsteller Klaus Mann.
Ein Foto zeigt junge Leute, die ausgelassen im Gras sitzen und die Hände heben. Dazwischen tollt ein Hund. Im Hintergrund eines der Schulgebäude. Es wirkt anheimelnd. Dunkelrote Läden an den Festern, auch Blumen. Das Miteinander sei "geprägt von einer liberalen, demokratischen Hausordnung." Wer weiterklickt erfährt als erstes, dass diese "außergewöhnliche Schule" am 17. April 100 Jahre alt wird. Dieses Jubiläum soll im Juli mit einer Festwoche gefeiert werden.
Nur wer gezielt weitersucht und unter der Rubrik "Aktuell/Termine" auf "Nachrichten" geht, sieht ein Schreiben von Schulleiterin Kaufmann. "Wir sprechen den Opfern der damaligen Missbrauchstaten unsere Solidarität aus und entschuldigen uns als Institution für das ihnen zugefügte Unrecht."
Schulleiterin fordert Rücktritt des Vorstands
"Ich bin seit Oktober 2007 im Amt und wusste von früherem Missbrauch", berichtet Kaufmann weiter. "Aber ich war davon ausgegangen, dass das Thema sozusagen erledigt ist." Nach einem Bericht der "Frankfurter Rundschau" wurden die Übergriffe jahrelang vertuscht. Von 1971 bis 1985 könnte es bis zu 100 Opfer gegeben haben. Kaufmann fordert in der Zeitung den Rücktritt des Schulvorstands. Dem Gremium gehört sie selbst an.
Die Odenwaldschule landete 2005 bei einer Studie des Wirtschaftsmagazins "Capital" bundesweit unter den Gymnasien auf dem fünften Platz. In Hessen lag das Internat mit seinen rund 200 Schülern sogar an der Spitze. Seit 1963 gehört die Einrichtung als Unesco-Projektschule einem weltweiten Schulnetzwerk an. Nun müssten sich alle der Wirklichkeit stellen, meint Kaufmann. "Für die Odenwaldschule ist es im Moment sehr, sehr wichtig, sich darüber klar zu sein, dass das tatsächlich Teil ihrer Geschichte ist."
Dies hat nach Kaufmanns Einschätzung Folgen für alle, die an der Schule lehrten und lernten. "Ehemalige Mitarbeiter und ehemalige Schüler können es nicht glauben, dass es sozusagen neben ihnen passiert ist", sagt die Direktorin. "Das ist, als ob eine Biografie neu geschrieben werden muss: in einer Schule gewesen zu sein, in der es sexuellen Missbrauch gab." Heute sei es aber anders. "Ich möchte jetzt meine Hand dafür ins Feuer legen, dass unsere Kinder gut bei uns aufgehoben sind."