Gewalt ist keine Lösung. Die Aushöhlung von Gewaltenteilung aber auch nicht. Das Dilemma, in dem sich die Türkei befindet, tritt nach dem gescheiterten Putschversuch in der vergangenen Woche noch schärfer zu Tage als zuvor. Laut und deutlich ging ein Teil der Bevölkerung gegen Panzer und Militärgewalt auf die Straße. Das ist bewundernswert. Leise bleibt es aber, wenn es darum geht, Menschen vor Polizeigewalt, Lynchjustiz und der Diktatur eines Einzelnen zu bewahren. Das ist besorgniserregend.
Warum ich mich als Erzbischof von Köln mit der Lage in der Türkei befasse, mag sich der ein und die andere fragen. Nun, Christen und Muslime glauben an denselben Gott und an ein Jüngstes Gericht, in dem wir Rechenschaft ablegen für unsere Taten. Wir glauben an sehr ähnliche ethische Grundregeln, an die Bedeutung einer Heiligen Schrift und von Propheten. Ich glaube, dass ein Christ einen Muslim Bruder nennen darf – und umgekehrt.
Beeindruckt von Erdogans frühen Regierungsjahren
Umso mehr wundere ich mich über die Politik der letzten Jahre in der Türkei. Ja, ich bin erschrocken, wie sich Lage und Stimmung im Land verändert haben. All das kann mir nicht egal sein, leben doch viele Türkinnen und Türken hier in Deutschland und auch in der Erzdiözese, für die ich verantwortlich bin. Sie sind oft überzeugte Anhänger der türkischen Politik, begeistert vom wirtschaftlichen Erfolg der Türkei und stolz auf die Aufmerksamkeit, die diesem wunderbaren Land aufgrund der engen Verflechtungen mit Deutschland und der EU, aber auch durch die großzügige Aufnahme hunderttausender Flüchtlinge aktuell zu Teil wird.
Auch ich war in den ersten Jahren der Regierungszeit von Erdogan durchaus beeindruckt davon, wie er sein Land als religiöser Mensch, aber auch als Freund der Demokratie umzubauen wagte und "Gerechtigkeit und Fortschritt" zum Programm machte. Die Rechte religiöser Menschen im Lande wurden gestärkt, Menschenrechte und Pressefreiheit wurden geachtet und mit dem vorher unterdrückten Volk der Kurden sollte Frieden geschlossen werden.
Selbst Papst Franziskus wurde attackiert
Was ist nur geschehen, dass heute so viele Journalisten, aber auch viele ehemals freie Bürger in türkischen Gefängnissen sitzen, die Todesstrafe ernsthaft wieder diskutiert wird, gegenüber der kurdischen Minderheit brutalste Gewalt herrscht, Christen in der Ausübung ihrer Religionsfreiheit massiv eingeschränkt werden und inzwischen auch deutsche Satiriker und Parlamentarier öffentlich angegriffen werden?
Selbst Papst Franziskus wurde kürzlich attackiert, nur weil er die Tötung unzähliger armenischer Christen vor hundert Jahren als das bezeichnete, was sie war, nämlich Völkermord. So lässt sich im Umgang mit Religion kein Staat machen!
Für mich als Christ sind nicht nur Frieden im eigenen Land und weltweit, sondern auch Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie Werte, für die ich mich einsetze. Über Jahrhunderte mussten wir Christen lernen, dass religiöse Gebote oder der Wille eines Regenten alleine nicht ausreichen, um ein gerechtes und florierendes Staatswesen zu erhalten. Sollten sich in diesem Punkt Christentum und Islam so sehr unterscheiden? Oder sind es gar nicht die Gebote des Glaubens, die die herrschende türkische Politik bestimmen?
Wo Barmherzigkeit fehlt, wird Wahrheit zum Albtraum
Eine Woche nach dem zum Glück gescheiterten militärischen Putschversuch bleiben mir die Hoffnung und die Bitte: Danken Sie Ihrem Volk für seinen Einsatz mit Recht und Freiheit, Bruder Erdogan, und zerstören Sie die Demokratie jetzt nicht durch Ihr Handeln! Denn als Christen und Muslime wissen wir uns gerade auch in unserem politischen Handeln allein dem einen und wahren Gott verpflichtet, dessen Wesen Koran und Bibel als barmherzig beschreiben.
Das zu vergessen, würde unserer Wahrheit eine Härte und Schärfe verleihen, die das Leben verletzt. Wo nämlich Barmherzigkeit fehlt und allein Rache und Vergeltung herrschen, wird die Wahrheit zum Albtraum und so zu einer Lüge gegen den gnädigen und barmherzigen Gott.
