Irgendwann nach Mitternacht schlägt am Times Square die optimistische Tapferkeit in Ärger um. "Ein paar Stunden ohne Strom in einer heißen Sommernacht sind irgendwie okay", sagt Albert Brownstein. "Aber zu viel ist zu viel, wer sind wir denn. Das großartigste und mächtigste Land der Welt oder eine Bananenrepublik ohne Power?" Power bedeutet im Englischen so viel wie Macht - oder auch Energie. Der Investmentbanker versteht angesichts des größten Blackouts in der Geschichte Nordamerikas die Welt nicht mehr.
Stunden vorher hatte der gewaltige Stromausfall im Nordosten Amerikas in New York zunächst tiefe Ängste ausgelöst. Rasch waren diese Gefühle aber einer großen Erleichterung gewichen: Kein terroristischer Anschlag, verkündeten alle Sender. Zuerst gaben die New Yorker Behörden Entwarnung, dann auch US-Präsident George W. Bush. "Da haben wir Champagner geköpft und gesagt, sei’s drum, nehmen wir einen Drink auf dem Heimweg, ein Glück, kein neuer 11. September!"
Bloomberg war nur über Batterieradios zu hören
Bürgermeister Michael Bloomberg klang entsprechend optimistisch. Die New Yorker beglückwünschte er zu ihrer standhaften Haltung. Zwar "nicht in Minuten aber in einigen Stunden" sollten in der Stadt, die niemals schläft, die Lichter wieder angehen. Er empfahl: "Schauen Sie aus dem Fenster, hören Sie Radio". Bloomberg erreichte die meisten New Yorker mit seiner Botschaft aber nicht mehr. Er war nur über Batterieradios zu hören. Doch weite Teile Manhattans lagen noch weit nach Mitternacht im völligen Dunkeln. Zumindest am Freitagmorgen sollte der Spuk vorbei sei. Die New Yorker würden dann nur noch Scherze darüber machen, wo sie gerade waren, als das Licht ausging.
Die Mattscheiben der Fernseher blieben dunkel, und die Einwohner der Stadt waren auch telefonisch von der Außenwelt weitestgehend abgeschnitten. Das Handynetz war längst zusammengebrochen ebenso wie die meisten privaten Telefonleitungen. Nur noch öffentliche Telefone auf der Straße funktionierten über viele Stunden und die auch nur für Leute, die sich rechtzeitig mit Telefonkarten versorgt hatten.
Auf dem Zahnarztstuhl erwischt: der Bohrer drehte sich nicht mehr
Viele New Yorker brachte der Stromausfall in eine unangenehme Lage. "Ich saß gerade auf dem Zahnarztstuhl, da drehte sich der Bohrer nicht mehr", erzählte die 18-jährige Jackie Smith einem Rundfunksender. Tausende andere erwischte der "Blackout 2003", wie die Medien das Ereignis mangels einer fantasievolleren Bezeichnung zunächst nannten, im Fahrstuhl oder in der U-Bahn.
Da bewährten sich allerdings eindrucksvoll die Notfallübungen, die New Yorks Behörden sich nach dem 11. September 2001 auferlegt hatten. In kurzer Zeit wurden Tausende aus den Schächten der Subway an die Oberfläche geholt. Es gab dabei nur wenige Verletzte. "Schon wieder dieser Bin Laden?", fragte eine ältere Chinesin nach ihrer Rettung an der U-Bahn-Station Astor Place. "Nein, Oma", sagte ein Feuerwehrmann, "bloß ein netter kleiner Stromausfall."
Dem Investmentbanker Brownstein dämmerte einige Zeit später, dass er so bald nicht nach Hause kommen würde. Vor ein paar Stunden hatte er an der Wall Street noch "ausgerechnet in Energiewerte investiert", erzählte er. Ein paar Stunden später war er - wie vor knapp zwei Jahren schon einmal, als sein Büro noch in der Nähe des World Trade Centers lag - mit zehntausenden Mitbürgern irgendwo auf dem Weg gestrandet. Am Bahnhof Grand Central, wo die Züge in die grünen Wohngegenden im Norden abfahren, ging absolut nichts mehr. Die Hotels in der gesamten Umgebung waren längst ausgebucht, obwohl manche plötzlich die Preise von 150 auf 450 Dollar erhöht hatten. "Es wird dringend empfohlen, nicht auf die öffentlichen Verkehrsmittel zu setzen", sagte ein Rundfunksprecher.
Central Park in Open-Air-Hotel umgewandelt
Tausende, wenn nicht Zehntausende machten allmählich den Central Park zu einem riesigen Open-Air-Hotel. "So viele Kerzenlichter habe ich hier noch nie gesehen", sagte Rebecca Fletcher, eine Krankenschwester aus Brooklyn. "Da es ringsum in den ganzen Wolkenkratzern kein Licht mehr gibt, kommt unser Kerzenmeer besonders gut zur Geltung." Am frühen Morgen waren viele Kerzenstummel ausgebrannt. Aus dem Happening war eine Schlafnacht im Park geworden. "Was wäre, wenn uns das mitten im Winter passiert wäre?", fragte Fletcher. Keiner dieser Gruppe von rund 30 Central-Park-Schläfern antwortete mehr. Aus einem Transistorradio war noch zu hören: "Auch am Freitag keine U-Bahn, Leute, bleibt zu Hause und das empfehlen wir auch dem Bürgermeister." Doch der war zu der Zeit wohl schon zu Bett gegangen.
Thomas Burmeister