Josef Fritzl liegt auf dem Bauch, nur mit einer Badehose bekleidet und lässt sich am sonnigen Strand von einer Thai massieren, er lacht. Amateur- Videoaufnahmen aus vergangenen, fröhlicheren Tagen. Dann TV-Bilder aus dem düsteren Kellerverlies und eindringliche Schilderungen des Horrors. Der Inzest-Fall von Amstetten - Thema beim gestrigen RTL-Magazin "Extra". Die Geschichte des Josef Fritzl , der seine Tochter Elisabeth vierundzwanzig Jahre lang in ein 55-Quadratmeter-Verlies sperrte, sie unzählige Male vergewaltigte und sieben Kinder mit ihr zeugte. Natascha Kampusch, selbst über acht Jahre lang unter Tage eingesperrt, sollte etwas dazu sagen. Moderatorin Birgit Schrowange hatte das Entführungsopfer zu sich in die Sendung geholt: Herzlich willkommen zum Betroffenheitsgespräch. Kampusch sollte die erschütternde Angelegenheit kommentieren wie ein Trainer ein Fußballspiel. Sie ist doch "Expertin" - oder etwa nicht? Der Fall Amstetten habe, so Birgit Schrowange, Natascha Kampusch wieder mit "voller Wucht in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit gedrängt". Die 20-Jährige sei eine gefragte Gesprächspartnerin, denn "kaum jemand kann ermessen, was die Opfer von Josef Fritzl durchmachen mussten - Natascha Kampusch kann es."
Sicher, sie kann es, aber will sie es denn auch? Will sie wirklich noch einmal zurück in ihren alten, quälenden Schmerz? Und warum ausgerechnet im Exklusiv-Interview mit Birgit Schrowange? Ist Geld im Spiel? Und wenn ja, wäre das verwerflich? Über Natascha Kampusch ist bekannt, dass sie soziale Projekte finanziell unterstützen will - den Opfern von Amstetten habe sie inzwischen 25.000 Euro gespendet. Vielleicht aber ist es zu einfach, einzig mit finanziellen Motiven argumentieren zu wollen. Möglicherweise, und das ist eine Vermutung, ist es mit der wieder gewonnen Freiheit gar nicht so einfach wie erhofft und Natascha Kampusch wandert, nur um irgendeine Struktur zu haben, lieber bereitwillig in das nächste Gefängnis, eingesperrt in Fotos, Interviews und Berichterstattungen. Ihre innere Zerrissenheit zeigt sich auch da: Im vergangenen August sprach sie noch davon, auszuwandern, und nun soll bald, im nächsten Monat, ihre eigene Talkshow im österreichischen Fernsehen ausgestrahlt werden. Als Gäste eingeladen werden Menschen mit schweren Schicksalsschlägen. Natascha Kampusch will ihnen zuhören und Mut zusprechen. Oder ist es vielmehr so, dass sie sich selber Mut machen will?
Auch wenn oft davon die Rede war, aus dem bedauernswerten Kellermädchen sei eine selbstbewusste junge Frau geworden: Bei Birgit Schrowange war eine Natascha Kampusch zu sehen, die immer wieder mit den Tränen kämpfte und ihre Lippen fest aufeinander presste. Die bei jeder Antwort nach oben blickte, als gäbe es dort irgendeinen Ausweg. Die sich, auf den ersten Blick, bewundernswert unter Kontrolle hatte, und doch gleichzeitig extrem schutzbedürftig wirkte. Sollte das, wie böse Zungen sicher behaupten werden, eine Inszenierung sein, dann sollte man Natascha Kampusch schleunigst für einen Oscar nominieren.
"Grässliches Schauermärchen"
Über die Vorfälle von Amstetten hörte Natascha Kampusch, wie sie erzählte, aus dem Fernsehen. "Am Anfang dacht ich mir: wie bedauerlich", sagte sie im Interview mit Birgit Schrowange. Nach und nach sei ihr der Gedanke gekommen: "Moment mal, da sind ja so viele Parallelitäten." Und dann sei ihre Vergangenheit "so stark auf mich eingestürzt, dass ich das Fernsehen abdrehen musste". Sie sprach von einem "grässlichen Schauermärchen" und davon, dass sie sich durchaus vorstellen könne, dass jetzt, in diesem Moment, auch woanders Menschen eingesperrt seien. Und zwar, wie sie betonte, nicht nur in Österreich: "Viele Leute meinen ja, dass es Österreich-spezifisch ist." Doch, so schrecklich der Vorfall von Amstetten auch sei, Natascha Kampusch sagte, sie müsse ehrlicherweise gestehen: "Es war irgendwie erleichternd für mich. Weil dann wird man nicht mehr so als Kuriosum betrachtet."
Natürlich genügte es nicht, Natascha Kampusch ausschließlich als "Expertin für eingesperrte Menschen" zu befragen. Wenn sie denn schon mal da war, musste sie sich auch Fragen gefallen lassen über ihre 3096 Tage hinter einer Betontür. Birgit Schrowange zielte wie eine Scharfschützin, und zwar genau dorthin, wo es weh tat: Was war für Sie das Schlimmste? Wie hält man das aus? Wie schafft man es zu überleben? Natascha Kampusch dazu sehr beherrscht: "Ich kann nur von mir sprechen: der Körper lebt einfach weiter, der Geist beschränkt sich auf das Mindeste." Man könne sich den Schmerz wegdenken. Weiter zu den nächsten Fragen, Birgit Schrowange kam in Fahrt: Hat er Sie bedroht? War er Ihnen gegenüber gewalttätig? Natascha Kampusch machte eine Pause, blickte nach oben, unterdrückte Tränen und sagte dann: "Durchaus, aber ich möchte nicht so gerne darüber sprechen."
Schrowange mit Therapeutinnen-Gesicht
Ob Birgit Schrowange auch als Psychotherapeutin bella figura gemacht hätte? Die Moderatorin versuchte sich zumindest mit einem Therapeutinnen-Gesicht, als Natascha Kampusch über ihren Peiniger Wolfgang Priklopil erzählte: "Ich wollte nicht verantworten, dass er sich selbst umbringen würde." Indem sie aber weggelaufen sei, habe sie sein Todesurteil unterschrieben. "Auch wenn es nicht wirklich meine Schuld ist und ich jedes Recht dazu habe, wegzulaufen, es ist nicht einfach, irgendjemanden umzubringen", sagte sie. Dazu Therapeutin Schrowange: "Sie haben ihn nicht umgebracht, es war seine Entscheidung." Patientin Kampusch: "Wenn ich nicht weggelaufen wäre, hätte er sich nicht umgebracht."
Therapieversuch gescheitert. Aber behauptet überhaupt irgendwer, die Medien seien die beste Therapie für einen Menschen wie Natascha Kampusch? Andererseits, man weiß nicht, wie es ist, Natascha Kampusch zu sein. Und man weiß auch nicht, wie es ist, ein Kellerkind von Amstetten zu sein.