Wer weiß, wie sich der Lauf der Geschichte verändert hätte, wenn Darnella Frazier nicht ihr Handy gezückt hätte. Am 25. Mai 2020, vor einem Jahr, hat sie eine Szene auf den Straßen von Minneapolis gefilmt, die weltweit Schlagzeilen schreiben sollte. An jenem Tag wird der Afroamerikaner George Floyd bei einem Einsatz von einem weißen Polizisten getötet, der ihm neuneinhalb Minuten lang das Knie auf den Nacken drückte. Floyds qualvoller Tod, von Frazier auf Kamera festgehalten, löste Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus aus – weit über die USA hinaus.
Das Video, so verstörend und schockierend in der Ansicht, machte Menschen weltweit zu Kronzeugen eines folgenreichen Verbrechens. Und Frazier zu einem anderen Menschen, wie sie nun schildert.
"Wir werden als Schläger, Tiere und Kriminelle angesehen"
Am Dienstag, dem ersten Jahrestag von Floyds Tötung, veröffentlichte die 18-Jährige ein "kraftvolles Statement" auf Facebook, wie etwa die "New York Times" bilanzierte. Es ist eine Abrechnung, Anklageschrift und eine sehr persönliche Offenbarung auf rund 3000 Zeichen.
"Vor einem Jahr wurde ich Zeugin eines Mordes", schreibt Frazier, "der Name des Opfers war George Floyd." "Ich wusste, dass sein Leben zählt. Ich wusste, dass er Schmerzen hatte. Ich wusste, dass er ein weiterer schwarzer Mann in Gefahr und ohne Macht war."
Sie sei damals erst 17 Jahre alt gewesen, so Frazier, und habe ihren neunjährigen Cousin zu einem Laden um die Ecke bringen wollen, ohne zu wissen, wie drastisch sich ihr Leben an diesem Tag verändern würde. "Es hat mich verändert. Es hat meine Sicht auf das Leben verändert. Es ließ mich realisieren, wie gefährlich es ist schwarz in Amerika zu sein", schreibt sie. "Wir werden als Schläger, Tiere und Kriminelle angesehen, nur wegen der Farbe unserer Haut", konstatiert sie mit Blick auf Polizeibeamte.
Frazier, mittlerweile 18 Jahre alt, skizziert in ihrem Posting auch die Zeit nach Floyds Tötung. Das "Trauma", das sie bis heute verarbeiten müsse. Die vielen schlaflosen Nächte. Die "Panik" und "Angstattacken" beim bloßen Anblick von Streifenwagen. Den Medienrummel vor ihrem Haus. "Es ist nun ein bisschen einfacher", schreibt sie, "aber ich bin nicht mehr die, die ich einmal war. Mir wurde ein Teil meiner Kindheit genommen."
Das Mädchen hinter dem Video
Ihr Handyvideo, das sie damals auf Facebook veröffentlichte, brachte weltweit Menschen auf die Straße. Sie sagte vor Gericht gegen Derek Chauvin aus, jenen weißen (Ex-)Polizisten, der sein Knie auf Floyds Nacken drückte und ihn tötete. Sie zeichnet damit mitverantwortlich, dass dessen Tod nicht ungesühnt bleibt: Eine Geschworenen-Jury sprach Chauvin vor einem Monat in allen Anklagepunkten schuldig, darunter im Hauptanklagepunkt Mord zweiten Grades. Das Strafmaß soll am 25. Juni verkündet werden, Chauvin steht eine lange Gefängnisstrafe bevor.
"Viele Menschen nennen mich eine Heldin", schreibt Frazier, "aber ich sehe mich nicht als eine." Sie sei lediglich zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen, um die Szenen festzuhalten – wenngleich sie im März bedauerte, nicht eingegriffen zu haben, obgleich die Hauptschuld bei den Polizisten liege.
"Black Lives Matter" in Bildern: Die Welt rechnet mit Rassismus ab

"Hinter dem Lächeln, diesen Auszeichnungen, hinter der öffentlichen Aufmerksamkeit bin ich ein Mädchen, das versucht von etwas zu heilen, an das ich jeden Tag erinnert werde." Jeder spreche über "das Mädchen, das George Floyds Tod aufgezeichnet hat". Dieses Mädchen zu sein, schreibt Frazier, sei eine andere Geschichte.
"Mein Video hat George Floyd nicht gerettet, aber es hat seinen Mörder von der Straße gebracht", fügt sie hinzu. Und richtet am Ende ihres Postings noch einige Worte an Floyd: "George Floyd, ich kann nicht ausdrücken, wie sehr ich mir wünsche, dass die Dinge anders gekommen wären, aber ich möchte Sie wissen lassen, dass Sie für immer in meinem Herzen sein werden. Ich werde mich Ihretwegen immer an diesen Tag erinnern. Möge Ihre Seele in Frieden ruhen."