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Kolumne Winnemuth Wenn ein Cancan-Rock das Selbstbild ruiniert

Als Susanna Cianfarini ein Porträt von ihr anfertigen will, quält sich die Kolumnistin Meike Winnemuth mit einer Frage: Bin ich ein Kniestrumpf? Denn die italienische Künstlerin porträtiert ihre Zeitgenossen mit Kleidungsstücken.
Von Meike Winnemuth

Eine Künstlerin kontaktierte mich, Susanna Cianfarini. In Rom aufgewachsen, in Deutschland und Italien lebend, eine studierte Volkswirtschaftlerin, Karriere bei der Deutschen Bank, jetzt arbeitet sie in Papier. Sie schneidert Leuten, die sie interessieren, fantastische Kleider auf den Leib. Ihr Projekt: Wer ist dieser Mensch, wenn er ein Kleidungsstück wäre? Gerade wurde eine Ausstellung ihrer Papierkleiderporträts in Wiesbaden gezeigt, nun beginnt sie mit einer neuen Serie. Ob sie mich wohl porträtieren dürfe?

Hallo? Natürlich. Bitte, wer würde da Nein sagen? Sie kam vorbei, wir redeten, ich erzählte was von mir, sie nickte viel und lachte oft, und trotzdem fragte ich mich die ganze Zeit: Was sieht sie jetzt? Wo hört sie hin? Wer bin ich in ihrer Wahrnehmung? Was für ein Kleidungsstück könnte ich werden? Wenn es nach mir ginge: ein dunkelblauer Nadelstreifenanzug. Oder was Wetterfestes: ein Friesennerz, ein Gummistiefel. Oder irgendwas Elastisches fürs Sofa, eine olle Jogginghose vielleicht. Aber was, wenn sie mich für einen Kniestrumpf hält oder einen Ärmelschoner oder ein Tutu?

Keiner ist zu irgend einem Zeitpunkt adjektivtauglich 

Die alte Geschichte von Selbstbild und Fremdbild mal wieder. Hier ist der Mensch, für den man sich hält. Oder für den man gern gehalten werden möchte. Idealerweise mit ein paar einigermaßen schmeichelhaften Vokabeln griffig zu beschreiben. Intelligent, humorvoll, bla, bla, bla. Natürlich ist jede diese Vokabeln eine Lüge. Niemand ist immer schlau, manchmal ist man einfach unfassbar dämlich. Manchmal kommt einem der Humor abhanden.

Meike Winnemuth

Die Bestsellerautorin ("Das große Los") schreibt wöchentlich im stern. Und freut sich auf Sie. Was bewegt Sie gerade? Tauschen Sie sich mit unserer Kolumnistin aus: 
facebook.com/winnemuth

Manchmal ist man nicht heiter, sondern melancholisch, nicht chaotisch, sondern übermenschlich strukturiert (selten, okay). Zu jeder Selbstbeschreibung fällt mir sofort das "Ja, aber" ein: Ich bin dies und das und von allem auch das Gegenteil, je nachdem, in welcher Situation ich stecke und auf was ich gerade reagiere. Eigentlich glaube ich sogar, dass keiner zu irgend einem Zeitpunkt adjektivtauglich ist, oft ist es ja das unsagbar Ungefähre und Halbwahre, das uns ausmacht.

Ist Meike Winnemuth ein raschelnder Cancan-Rock?

Noch verwaschener wird das Eigenbild dadurch, dass wir so dringend gemocht werden wollen. Dass wir also jedem, der uns gerade gegenübersitzt, die Version präsentieren, die derjenige sympathisch finden könnte. Je länger ich also mit Signora Cianfarini redete, desto weniger wusste ich, wer da eigentlich spricht. Tolle Voraussetzung für ein Porträt.

Zwei Monate später kam sie wieder, mit einem voluminösen Ding überm Arm, was zum Himmel ist das? Ich koche erst mal Tee. Ich brauche was zum Festhalten, wenn ich ein Date mit meinem Fremdbild habe.

Das Ding ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, wie ich mich selbst sehe: ein bodenlanger halbkreisförmiger Wickelrock, auf der einen Seite blaugrau mit einem handschriftlichen Text (passt), auf der anderen Seite in konzentrischen Kreisen mit Papierrüschen in Sonnenfarben von Hellgelb bis Orange bepflanzt. Liebe Güte. Was habe ich gesagt, dass sie mich für einen raschelnden mexikanisch angehauchten Cancan-Rock hält?

Die Fragen, die einem nur die Kunst stellen kann

Sie erklärt. Das blaue Außen, das strahlende durchschimmernde Innen, das erst in Bewegung sichtbar wird, beim Tanzen. Meine Entscheidung, was ich zeigen will, was für mich innen und was für mich außen ist. Okay, verstehe. "Ich lasse es Ihnen mal da, spielen Sie damit."

Ich lebe also seit einer Woche mit gut zwei Quadratmetern Fremdbild. Ich habe den Rock als Gardine ans Fenster gehängt, als Superheldinnen-Cape getragen. Und mehr über mich nachgedacht, als ich es in Jahrzehnten getan habe. Bin ich anders, als ich glaube? Vielleicht kann einem nur Kunst solche Fragen stellen.

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