Bewegung Schuhe gekauft, Leben gerettet

Von Torben Müller und Barbara Dombrowski (Fotos)
Rauchen, Bier, Currywurst, das waren die drei Disziplinen des Raimund Schultz. Heute gehört er zur ersten Riege der Triathleten. Die Chronik einer Neugeburt.

Gewöhnlich geraten Revolutionen auf der Straße ins Rollen, bei Massendemonstrationen vor Palästen oder auf Paradeplätzen. Raimund Schultz startete seine Rebellion im Treppenhaus. Ganz allein, an einem Montagabend. Es ging ihm nicht darum, die Regierung zu stürzen; Schultz begehrte gegen den Mann auf, der ihm jahrelang ein Leben voller Trägheit und Nachlässigkeit auferlegt hatte. Er revoltierte gegen sich selbst.

Den Abend des 2. Oktober 1995 wird der heute 51-jährige Hannoveraner nie mehr vergessen. "Ich kam von der Arbeit und wollte zu meiner Wohnung in den vierten Stock", erzählt er. Schon lange war es ihm schwer gefallen, seinen 104 Kilogramm schweren Körper die Treppen hochzuschleppen, doch an diesem Abend ging überhaupt nichts mehr. "In der zweiten Etage war ich am Ende. Mein Puls raste, und ich bekam keine Luft mehr - das war mir noch nie passiert", sagt er. Auf dem Treppenabsatz steckte er sich eine Zigarette an und wartete, dass sein Körper wieder zu Kräften kam. In diesen Minuten wurde ihm klar: "Ich bin 42 und schon völlig kaputt. Und ich wusste: Ich muss mein Leben ändern."

Sport spielte keine Rolle

Bis zu diesem Augenblick hatte Sport in Schultz' Alltag keine Rolle gespielt. Einmal war er mit seiner früheren Frau eine 20-Kilometer-Tour mit dem Fahrrad gefahren. "Danach hat mir alles so wehgetan, dass ich es nicht noch mal gewagt habe." Dass er Jahre später freiwillig 180 Kilometer am Stück im Renntempo zurücklegen würde, ahnte er da noch nicht. Essen, Trinken und Rauchen, das waren jahrelang die drei vornehmlichen Disziplinen des einstigen Couch-Triathleten. 15 Tassen Kaffee kippte er in dieser Zeit täglich in sich hinein, 80 Zigaretten zerdrückte er zwischen Aufstehen und Zubettgehen im Aschenbecher. Die erste rauchte er nicht vor dem Frühstück -die Zigarette war sein Frühstück.

Anschließend fuhr er kreuz und quer durch die Region, um Spielautomaten zu reparieren. "Oft blieb ich bis in die Nacht bei den Kunden, die mir Zigaretten, Pommes und auch mal einen Korn anboten", erzählt der gelernte Elektroniktechniker. Die Probleme, die sich daraus allmählich ergaben, wuchsen ihm weithin sichtbar über den Hosenbund. Und so zog er erstmals Konsequenzen: "Statt eines Gürtels habe ich dann nur noch Hosenträger benutzt - die schnitten nicht so unvorteilhaft in die Wampe."

Als Schultz am Abend jenes 2. Oktober 1995 seine Wohnung erreichte, bestellte er sich eine Pizza, zündete sich noch einmal eine Zigarette an - und versprach sich, vom nächsten Tag an von all diesen ungesunden Dingen die Finger zu lassen. Der Sport sollte ihm bei Diät und Nikotinentzug helfen. Schultz: "Ich dachte mir, Training und Zigaretten passen nicht zusammen. Also beschloss ich, mir das Laufen an- und so das Rauchen abzugewöhnen."

Sein Körper rebellierte

Das hörte sich einfach an - war es aber zunächst überhaupt nicht. "Zehn Tage lang hat mein Körper gegen den Nikotinentzug rebelliert", sagt Schultz. "Ich habe nur noch Sterne gesehen und konnte keine Schaltpläne mehr lesen, weil die Linien vor meinen Augen verschwammen." Doch er hielt durch. Zwei Tage nach seinem Entschluss kaufte sich Schultz die ersten Laufschuhe seines Lebens und fuhr nach Feierabend mit seinem Fiat Ducato an den Maschsee. Auf der Hausstrecke der Hannoveraner, wo sich Profisportler und Hobbyathleten fit halten, wollte er seinem Ziel Schritt für Schritt näher kommen, eines Tages die 6000-Meter-Runde am Stück und ohne Gehpause zu schaffen. "Nach 60 Metern dachte ich noch, das ist ja ganz leicht", erzählt er. "Nach 600 Metern musste ich dann in die Büsche und mich übergeben." Anschließend schlich er enttäuscht im Dunkeln zum Auto zurück.

Am nächsten Tag probierte Schultz es wieder und schaffte 200 Meter mehr - ohne sich zu erbrechen. Beim dritten Versuch lief er zwei Kilometer und ging die restlichen vier bis ins Ziel, die erste Runde war geschafft. Aber sein Körper schien sich gegen die ungekannte Belastung zu wehren. Schon länger hatte Schultz unter Gelenkverkalkung gelitten. So stark, dass er seinen rechten Arm kaum bis zur Schulter anheben konnte und die Hüfte keinen Ausfallschritt mehr zuließ. Jetzt schmerzte diese unerträglich. Schultz: "Ein Orthopäde warnte mich vor dem Sport: ,Wenn Sie weiterlaufen, brauchen Sie in fünf Jahren eine neue Hüfte." Das wollte ich nicht glauben." Er gönnte sich zwei Tage Pause und nahm das Training danach wieder auf. "Da waren die Schmerzen weg."

Fünf- bis sechsmal in der Woche trainierte Schultz am See, und mit jedem Lauf schaffte er mehr. Bis er nach sechs Wochen schließlich erstmals eine komplette Runde in 48 Minuten lief. "Stolz wie Hulle" fuhr er nach Hause und setzte sich sofort ein neues Ziel: zwei Runden. Mittlerweile hatte Schultz seinen Alltag völlig neu organisiert, um den Sport fest in sein Leben einzubetten. "Bei den Kunden hielt ich mich kaum noch länger als nötig auf, um Zeit für das Laufen zu gewinnen", sagt er. "Außerdem lagen die Trainingssachen immer in meinem Auto bereit, falls sich zwischendurch einmal eine Gelegenheit ergab. Mein Chef wusste davon und hatte nichts dagegen."

Wieder Kondition und Selbstbewusstsein - allmählich

Die neue Liebe zum Sport brachte sein gesamtes Leben in Bewegung. Schultz stellte auch seine Ernährung gründlich um: Statt Bratwurst mit Pommes rot-weiß standen nun häufiger selbst gemachte Salate und Obst auf dem Speiseplan. Der Mann gewann Kondition und Selbstbewusstsein - und sein Körper allmählich wieder Kontur. Bis auf 84 Kilogramm speckte er ab. Gerade ein halbes Jahr nach seiner Laufpremiere startete Schultz beim Hannover-Marathon und kam nach respektablen 3:58 Stunden ins Ziel.

Zwei Monate später, im Juni 1996, meldete er sich für den ersten Triathlon seines Lebens an. 1,5 Kilometer quälte sich der Anfänger durchs Wasser, 40 Kilometer auf dem Rad und zehn zu Fuß; es hatte ja auch gleich die olympische Distanz sein müssen.

Beharrlich kämpfte er auf der Strecke gegen Krämpfe und Rückenschmerzen, aber vor allem gegen den "Besenwagen", der dicht hinter ihm ausgeschiedene Starter aufsammelte. Aufgeben kam nicht in- frage. Doch dort, wo er das Ziel wähnte, war nichts. Oder besser: nichts mehr. "Die Organisatoren hatten drei Stunden nach dem Start mit keinem Teilnehmer mehr gerechnet und alles abgebaut", erzählt Schultz. So registrierte keine Uhr den Augenblick, als er als Letzter die Ziellinie überquerte, nach 3:20 Stunden - hin und her gerissen zwischen Stolz und grenzenloser Enttäuschung. Und mit einem Gedanken im Kopf: "Hier kommst du wieder her, und dann zeigst du es ihnen."

73 Kilogramm schwer, durchtrainiert

Schultz hat es allen gezeigt. Den vielen Zweiflern, die zunächst nicht an seine Hartnäckigkeit und sein Leistungsvermögen glauben wollten. Aus dem Schwergewicht, das früher allenfalls am Flipper sportlichen Ehrgeiz entwickelte, ist einer der besten deutschen Triathleten seiner Altersklasse geworden. 73 Kilogramm schwer, durchtrainiert. Seit er vor vier Jahren den Job wechselte und als Hausmeister arbeitet, kann er seinen Tagesplan noch besser auf den Sport ausrichten: Fast jeden Morgen gegen vier Uhr läuft Schultz 8,5 Kilometer, duscht dann eiskalt und beginnt seinen Dienst. Nachmittags folgt die zweite Trainingseinheit mit Laufen oder Schwimmen, und nach Feierabend setzt er sich oft noch eine Stunde auf sein High-Tech-Fahrradergometer im Wohnzimmer. Vor großen Wettkämpfen bringt er es so in einer Woche auf 150 Kilometer Laufen, 450 Kilometer auf dem Rad und zehn Kilometer im Wasser.

Große Wettkämpfe, das sind die so genannten Langstreckenwettbewerbe wie die Ironman-Rennen in Roth, Neuseeland oder - der Traum aller Triathleten - auf Hawaii. 1998 hatte Schultz sich erstmals für den Triathlon der Welt qualifiziert. Alles war vorbereitet, die Startgebühr und der Flug bezahlt, als ihm drei Wochen vor dem Start eine Glasscheibe wie eine Guillotine den rechten großen Zeh durchtrennte. Noch einmal musste sich Schultz gedulden und (mit wieder angenähtem Zeh) weitertrainieren. Im folgenden Jahr klappte es: In 11:01 Stunden absolvierte er die 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42,195 Kilometer Laufen. Eine Minute vor Sonnenuntergang, dem Zeitpunkt, der die ganz großen Helden von den kleineren trennt, erreichte er das Ziel und wurde von den Zuschauern als "sunshine finisher" gefeiert. In seinem "alten" Leben hatte er einmal einen Film über den Hawaii-Triathlon gesehen. "Damals waren mir diese Leistungen utopisch vorgekommen, jetzt hatte ich es geschafft. Das war etwas ganz Großes für mich."

"Der Sport hat mich gesund gemacht", sagt Schultz. "Das Training gibt mir das Gefühl, körperlich und geistig gut drauf zu sein." Er sei zielstrebiger und konsequenter geworden. Die Kalkablagerungen in den Gelenken? Die sind verschwunden, die habe er beim Laufen "verstoffwechselt", sagt sein Arzt.

Zum Ironman nach Hawaii

Seine Familie und der Sport, das sind die Lebenskoordinaten des 51-Jährigen. Vor fünf Jahren lernte er seine Frau Oxana kennen, ihre heute elfjährige Tochter Valerija hat er mittlerweile adoptiert. Für gemeinsame Spaziergänge, Spielabende oder Hausaufgaben opfert er schon mal eine Übungseinheit. Oder mehr. Als seine aus Kasachstan stammende Frau vor 2003 kein Visum für die USA erhielt, stornierte er prompt die Reise zum Ironman auf Hawaii. Im vergangenen Jahr durften endlich alle drei einreisen, und Oxana Schultz revanchierte sich für die Treue ihres Mannes. Nach fünf platten Reifen auf der Radstrecke und einem Zeitverlust von einer Stunde und vierzig Minuten war Schultz so mürbe, dass er vor der letzten Disziplin aussteigen wollte. Seine Frau machte ihm Mut. "Sie sagte, wir hätten es endlich geschafft, zusammen hierher zu kommen, da dürfe ich nicht aufgeben", erzählt Schultz. "Da bin ich den Marathon eben auch noch gelaufen - und habe noch 300 Leute überholt."

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