Sechs Millionen Menschen leben in der südindischen Küstenstadt Chennai. Wer hier krank wird, geht in eine Arztpraxis oder ein Krankenhaus - oder zum Yogameister. Mehrere hundert Einwohner suchen jede Woche das Gesundheitszentrum Krishnamacharya Yoga Mandiram (KYM) auf, um ihre Leiden mit Hilfe der traditionellen indischen Lehre zu kurieren. Dort werden ihnen zur Behandlung ihrer Gebrechen passende Atem- und Bewegungsübungen verschrieben, zum Beispiel bei Asthma, Diabetes oder Depression. Das KYM ist die wohl bekannteste, aber längst nicht die einzige Klinik in Indien, die Yoga therapeutisch anwendet.
Yoga tut gut, und Yoga wird auch in der westlichen Welt immer beliebter: Mittlerweile dehnen drei bis vier Millionen Menschen in Deutschland ihre Muskeln und Sehnen nach der Lehre aus Indien, schätzt der Berufsverband der Yogalehrenden (BDY). Sie nutzen Yoga bislang vor allem zur Entspannung und als körperliches Training.
Es muss nicht so bleiben. Denn der oder das Yoga - der Duden erlaubt beides - kann tatsächlich mehr. Zunehmend entdecken auch Forscher aus Europa und den USA, dass sich die jahrtausendealte Methode zur Behandlung verschiedenster körperlicher und seelischer Leiden nutzen lässt.
Oft nur eine Art Aerobic im Asia-Style
"Mit Yoga kann man viel Gutes für sein Wohlbefinden tun", sagt Ingo Froboese, Professor für Prävention und Leiter des Zentrums für Gesundheit der Deutschen Sporthochschule Köln. Allerdings trage längst nicht alles, was sich Yoga nennt, diesen Namen auch zu Recht. "Was angeboten wird, ist oft eher eine Art Aerobic im Asia-Style", so der Sportwissenschaftler. Damit meint er vor allem die in Fitness-Centern sehr verbreitete Power-Variante.
Das Sanskrit-Wort Yoga geht auf denselben Stamm zurück wie das deutsche "Joch" und bedeutet Integration, Vereinigung. So wie Bauer und Ochse über das Joch vereint den Pflug ziehen, sollen Körper und Geist eine Einheit bilden. "Der menschliche Körper ist das Fahrzeug der Seele", heißt es in den Upanishaden, rund 2500 Jahre alten Schriften, die den Begriff Yoga bereits mehrfach erwähnen.
Ursprünglich war die Lehre ein rein spiritueller Weg. Atemtechnik (Pranayama) und Körperhaltungen (Asanas) dienten Meditierenden als Hilfsmittel auf dem Weg zu Erleuchtung. Im Laufe der Zeit erkannte man, dass sich die Übungen positiv auf das gesamte Wohlbefinden des Menschen auswirken. Die Asanas wurden weiterentwickelt, das heute im Westen am meisten praktizierte, eher körperorientierte Hatha-Yoga entstand.
Krankheit als Störung von Körper und Geist
Auch am Krishnamacharya Yoga Mandiram in Chennai lernen die Patienten Atem- und Bewegungsübungen. Doch nicht nur mit ihrer Wirkung begründen die Ärzte die heilenden Kräfte des Yoga. Für die Therapeuten des Zentrums ist Krankheit immer eine Störung von Körper und Geist zugleich - und die Lehre der "Vereinigung" ein wirksames Therapeutikum, weil sie auf beiden Ebenen ansetzt.
Das entspricht nicht dem Verständnis der westlichen Schulmedizin, die Krankheiten anhand der Symptome und physiologischen Veränderungen definiert. Dennoch wächst auch hier die Zahl der Ärzte, die Yoga als Therapie einsetzen. Wie zum Beispiel Reinhard Lang, Chefarzt der Abteilung für Kardiologie an der Albert Schweitzer Klinik in Königsfeld im Schwarzwald. Zu ihm kommen Menschen, die gerade eine schwere Herzoperation oder einen Infarkt überstanden haben, zur Rehabilitation.
"Stress gehört zu den Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen", sagt Lang. "Entsprechend besitzt die Stressbewältigung bei diesen Patienten große Bedeutung." Seit zwei Jahren bietet die Klinik dazu neben Progressiver Muskelrelaxation nach Jacobson und autogenem Training auch Yogakurse an - mit Erfolg: Die Yogakurse stoßen auf so großen Zuspruch, dass sie den anderen Entspannungsverfahren fast ein wenig den Rang ablaufen.
Atmung steht im Zentrum der Yoga-Lehre
Yoga, so Lang, "ist ein Verhaltenstraining, das dem besseren Stressmanagement dient". Ein Pluspunkt der indischen Lehre sei, dass sie besonderes Augenmerk auf die Atmung lenkt. Denn Atmen und Herz-Kreislauf-Funktionen sind physiologisch eng miteinander verknüpft. "Durch die richtige Atemtechnik kann man bestimmte Kreislaufreflexe bewusst steuern und kontrollieren, zum Beispiel einen Blutdruckanstieg in Stresssituationen."
Weil vor allem die frisch operierten Patienten während der Reha in ihren körperlichen Möglichkeiten oft noch ziemlich eingeschränkt sind, praktiziert man in Königsfeld eine sanfte Form des eigentlich eher dynamischen Hatha-Yoga. "Es geht nicht darum, sich zu verausgaben oder besonders akrobatisch zu verknoten", sagt Lang.
Die Mehrheit der Schulmediziner ist gegenüber der Wirkung von Yoga weiterhin skeptisch - nicht zuletzt, weil niemand genau sagen kann, was es bewirkt. So komplex sind die Effekte auf Körper und Geist, dass es kaum möglich ist, spezifische physiologische Veränderungen zweifelsfrei auf eine Yogatherapie zurückzuführen. "Deshalb hat Yoga ein esoterisches Image und wird von vielen Ärzten abgelehnt", sagt Ingo Froboese. Denn in der westlichen Welt gilt die Medizin zuallererst als Wissenschaft; ihr oberster Leitsatz ist das Prinzip von Ursache und Wirkung. Es reicht nicht, zu zeigen, dass etwas hilft, man muss auch zeigen, wie.
Man steht immer ein bisschen unter Strom
Zumindest für die entspannende Wirkung des Yoga ist das schon möglich. Angesichts des immer hektischer werdenden Alltags sei Stress oft Dauerzustand, sagt der Gießener Psychophysiologe Ulrich Ott. "Dann dominiert der sympathische Teil des vegetativen Nervensystems fast ständig über seinen Gegenspieler, den Parasympathikus." Folge: Man ist nervös, unruhig, steht immer ein bisschen unter Strom - selbst abends auf dem Sofa, wenn das Tagewerk längst vollbracht ist. "Viele Menschen sind in diesem Zustand festgefroren und können deshalb nicht abschalten."
Ruhiges, tiefes Atmen fährt die Aktivität des Sympathikus nachweislich herunter. So harmonisiert Yoga das vegetative Nervensystem. Ein Forscherteam der Thomas Jefferson University in Philadelphia wies nach, dass schon nach einer einstündigen Yogasitzung der Blutspiegel des Stresshormons Cortisol signifikant sinkt.
Wichtiger als diese physiologischen Effekte von Yoga findet Ulrich Ott etwas, das bei den Fitness-Studio-Varianten oft keine Rolle mehr spielt: die meditativen Elemente, denen in der traditionellen Lehre eine große Bedeutung zukommt. Ziel dabei ist, beispielsweise die Sinne völlig von der Außenwelt zurückzuziehen. "Wer das schafft", sagt Ott, "erlebt einen höchst angenehmen Zustand der tiefsten Entspannung, den er aus dem Alltag wahrscheinlich gar nicht kennt" - der sich aber in den Alltag mitnehmen lasse.
Ein Yogi braucht Durchhaltevermögen
Pratyahara - Zurückziehen der Sinne - ist die fünfte von acht Stufen auf dem Weg zur Erleuchtung. Um sie zu erreichen, braucht ein Yogi Durchhaltevermögen. "Man muss schon regelmäßig üben", sagt Ott, der nicht nur die Wirkungen von Yoga und Meditation erforscht, sondern beides seit langem praktiziert. Wer die Internet-Datenbank der amerikanischen Nationalbibliothek für Medizin durchforstet, findet inzwischen Hunderte von Veröffentlichungen zu Untersuchungen aus aller Welt, die dem Yoga weitere therapeutische Effekte bescheinigen. Die Palette der beschriebenen Wirkungen umfasst seelische Störungen wie Panikattacken und Depressionen, aber auch zahlreiche körperliche Krankheiten wie Arthritis, Kreislaufprobleme und Schwächen des Immunsystems.
"Die wenigsten dieser Studien genügen den gängigen wissenschaftlichen Kriterien", sagt der Sportmediziner Froboese. Deshalb seien die Zweifel hierzulande groß. Als Königsweg der Therapieforschung gilt die sogenannte randomisierte Doppelblind-Studie: Patienten werden nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt; eine erhält das zu testende Medikament, die andere ein anderes Mittel oder ein Placebo. Weder Arzt noch Teilnehmer erfahren, wer welche Behandlung bekommt.
Yoga auf den Prüfstand zu stellen, ist unmöglich
Diese Methode wurde für Arzneitests ersonnen - Yoga damit auf den Prüfstand zu stellen ist unmöglich. Schließlich kann niemand sich zu einer Übung wie dem Adho Mukha Svanasana, dem "nach unten blickenden Hund" erheben, ohne es zu wissen. Und wenn die eine Gruppe Yoga praktiziert, was soll die Kontrollgruppe machen? Schlechtes Yoga? Placebo-Yoga?
In den Ursprungsländern wird stattdessen beobachtet, ob Yoga bestimmten Patienten hilft. Im indischen Bangalore tut die Vivekananda Yoga Research Foundation nichts anderes, als systematisch und sehr ernsthaft zu untersuchen, bei welchen Erkrankungen Yoga wirksam ist. Dort, so Ingo Froboese, gebe es unzweifelhafte Belege für die verschiedensten Anwendungsmöglichkeiten, ebenso wie in Untersuchungen aus Nepal. Warum finden diese Erkenntnisse abseits des Subkontinents kaum Gehör? Froboese hat dafür eine ganz banale Erklärung: "Studien, die aus Indien oder Nepal kommen, werden offenbar nicht wirklich akzeptiert." Der Kölner Gesundheitsexperte ist überzeugt, dass das therapeutische Potenzial des Yoga nicht zuletzt aus diesem Grund in der westlichen Welt zu wenig genutzt wird.
Nach und nach finden nun aber auch Wissenschaftler in Europa und den USA Belege für die medizinische Wirksamkeit yogischer Übungen. So analysierte ein Team von der britischen Universität in Exeter vor zwei Jahren mehrere internationale Studien über koronare Herzerkrankungen. Das im renommierten Fachblatt "Perfusion" veröffentlichte Ergebnis: Mit Yoga lassen sich Risikofaktoren wie erhöhte Blutfette und Übergewicht verringern, und wer regelmäßig seine Übungen praktiziert, leidet deutlich seltener unter den krankheitstypischen Angina-pectoris-Beschwerden - Brustschmerzen, die vor allem bei Belastung auftreten. Ärzte aus Großbritannien stellten fest, dass Yoga-Atemtechniken die Symptome von Asthmatikern mildern. Und eine Ende vergangenen Jahres präsentierte Studie der Washington-Universität in Seattle stellte fest, dass ein therapeutisches Yogaprogramm bei chronischen Rückenschmerzen mehr Linderung verschafft als die etablierte Krankengymnastik.
Die Schulmedizin öffnet sich der östlichen Heilslehre
Nicht nur in der Forschung, sondern auch in der alltäglichen Praxis öffnet sich die westliche Schulmedizin allmählich der östlichen Heilslehre. So gibt es in London eine Spezialklinik, die mit Yoga gezielt verschiedene Krankheiten behandelt. Genau wie im indischen Chennai arbeiten dort Ärzte und erfahrene Yogalehrer Hand in Hand. Ähnliche Einrichtungen finden sich inzwischen auch in Spanien und Italien.
In der Reha-Klinik Damp an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste wird Yoga seit 1998 zur Behandlung chronischer Schmerzen genutzt. "Yoga schult die Körperwahrnehmung, und genau das wollen wir bei unseren Patienten erreichen", sagt Frank Ruhbaum, einer der zuständigen Ärzte. Schmerzkranke seien nicht selten "Durchbeißertypen". Obwohl es ihnen höllisch wehtut, schneiden sie abends nach der Arbeit noch im Garten die Hecke, nach dem Motto: Was mich nicht umbringt, macht mich härter. Durchbeißer akzeptieren nicht, dass ihnen ihr Körper Limits setzt. Im Yogakurs können sie es lernen.
Grenzen sind elementarer Bestandteil des Yoga. Nicht umsonst schließt sich gemäß der reinen Lehre an ein Asana, eine Haltung, ein Moment der Introspektion an. Dann horcht der Yogi eine Weile in sich hinein und schaut, was er empfindet. "Dabei geht es darum, die Übung zu bewerten und die richtige Dosis zu finden", sagt Ruhbaum. Nach seinen Erfahrungen überträgt sich das auch auf die alltäglichen Verrichtungen: "Oft nehmen die Kranken ihren Körper durch das Yoga besser wahr - und gehen fürsorglicher mit ihm um."
"Yoga stärkt den Körper und entspannt"
Am "Polikum" in Berlin-Friedenau arbeiten Mediziner verschiedener Fachrichtungen mit Psychiatern, Physiotherapeuten und Ernährungsberatern unter einem Dach zusammen. "Wir wollen auch dafür sorgen, dass Krankheiten gar nicht erst entstehen", sagt Michael Teut, einer der Ärzte des medizinischen Versorgungszentrums. In das Präventionsprogramm, das Teut entwickelt hat, ist Yoga fest integriert. "Yoga stärkt den Körper und entspannt. Das ist für jeden gut, der sich fit halten möchte", sagt er. Nicht jeder Teilnehmer des zwei Monate dauernden Kurses praktiziert allerdings die gleichen Asanas und Pranayamas. "Wir haben einen individuellen Übungsansatz, angepasst an die Bedürfnisse und das Leistungsvermögen."
Obwohl einige Kassen Yoga bislang nur als Vorsorge- und nicht als Behandlungsmaßnahme bezahlen, empfehlen die Polikum-Mitarbeiter den Kurs bei verschiedenen Leiden auch als Therapie, bislang vor allem bei Rückenschmerzen, Schlafstörungen oder Bluthochdruck. Künftig möchte Michael Teut spezifische Yogatherapien für verschiedenste Erkrankungen anbieten. Oben auf seiner Liste steht das Reizdarmsyndrom. Spätestens ab Ende des Jahres will er untersuchen, ob ein spezielles Yogaprogramm den Betroffenen hilft - im Rahmen einer Studie, um das Ergebnis auf ein wissenschaftliches Fundament zu stellen. Teut ist überzeugt, dass er damit einen Effekt belegen kann: "Da psychische Faktoren wie Stress beim Reizdarmsyndrom große Bedeutung besitzen, kann die entspannende Wirkung des Yoga hier viel ausrichten."
Selbst aufgeschlossene Wissenschaftler sehen Anbieter skeptisch, die Yoga als Allheilmittel preisen. Einige Varianten der Lehre werben mit dubiosen Heilsversprechen. Kriya-Yoga soll den Organismus reinigen, Kundalini-Yoga eine gleichnamige geheimnisvolle Kraft wecken.
Yoga ist nicht nur sanft
Gesunde müssten zwar von keiner der Methoden negative Auswirkungen befürchten, sagt Ingo Froboese. Bei Krankheiten aber könne es mitunter gefährlich werden: "Fernöstliche Methoden gelten immer automatisch als sanft und harmlos, doch beim Yoga stimmt das nicht. Damit lässt sich auch Schaden anrichten." Manche Übungen seien bei Wirbelsäulenschäden und Rückenproblemen aus medizinischer Sicht riskant. Und Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen müssten bei anstrengenden Halteübungen vorsichtig sein, denn starke Muskelanspannung treibt den Blutdruck nach oben.
Zweierlei ist wichtig, um Gefahren zu entgehen. Erstens: hinhören, wenn der Körper "Stopp" sagt. Und zweitens: einen gut ausgebildeten und fähigen Lehrer suchen. Vier Jahre Ausbildung seien das Minimum, und dabei müssten auch medizinische Kenntnisse vermittelt werden, sagt Froboese. "Ein guter Yogalehrer sollte die Risiken kennen und wissen, wo eine Anwendung sinnvoll ist."