Knut-Manie im Berliner Zoo Wie die Pilger dem Osterbären huldigen

Knut im Fernsehen, Knut als Stofftier, Knut auf einer Postkarte - alles schön und gut. Aber für viele kleine und große Fans muss es doch der echte Eisbär sein. Zu Tausenden pilgern sie in den Berliner Zoo. Bei den Auftritten des Weltstars geht es zu wie bei einer Show von Tokio Hotel.

"Und?", schreit der eine Junge. "Siehst Du ihn?" "Nääh", schimpft der andere. "Ich seh' nur einen weißen Fleck. Aber das isser nicht." Die beiden Zehnjährigen haben alles versucht. Sie sind auf einen Biertisch geklettert. Jetzt recken sie sich. Sie strecken die Hälse. Sie gucken über die Köpfe all der anderen hinweg, über die Masse, über die Absperrung, hinüber zu dem Felsengehege, wo er erscheinen soll. Aber noch ist er nicht da. Noch nicht. Aber jede Sekunde muss es so weit sein. Dann kommt er. Er. Knut. Der Eisbär. Der weiße Weltstar. Jenes Tier, das das ganze Land in seinen Bann geschlagen hat. Mindestens.

Vorbei an Panzernashörnern und Flachlandtapiren

Es ist kurz vor elf. Die Sonne über dem Berliner Zoo scheint, der Himmel ist wolkenlos-blau, die Luft frisch und kühl. Es ist ein Traumtag, kurz vor Ostern, mitten in den Ferien. Der Strom der Knut-Pilger schwillt. Von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Von elf bis zwölf gibt der tierische Messias heute Vormittag eine Audienz. Sein Pfleger, Thomas Dörflein, soll auch dabei sein. Hundert Meter ist sie lang, die Schlange vor dem Kassenhäuschen des Zoos.

Mindestens eine Stunde müssen die Pilger warten - und dann umso mehr eilen. Sie müssen vorbeieilen an den gemächlichen Elefanten, am stoischen Panzernashorn, an den nervösen Flachlandtapiren, am Flusspferd, an den Volièren. Sobald sie die Holzburg sehen, den Stolz des Spielplatzes, haben die Pilger fast schon das Knut'sche Gehege im Blick - und die wartenden Massen all der anderen Knutpilger. In der Luft liegt das Gejuchze und Gejohle hunderter Kinderstimmen. Die Pilger, kleine und große, sie drängeln. Sie wollen Knut sehen. Sofort.

Ein Sonderzone für Kinder

Aber so schnell geht das nicht. Und vor allem nicht so einfach. "Noch mal zum Mitschreiben", krächzt es aus einem Megafon. "Bitte runter von Tischen und Bänken." Ein Mann von einem Sicherheitsdienst hält den Lautsprecher in Händen. Schwarze Sonnenbrille, langes Haar, Kapuzenpulli, Jeans. Er sieht aus wie der Roadie eines Pop-Stars. Er ist der Roadie eines Popstars, denn bei Tokio Hotel wird es auch nicht anders zugehen. Der Roadie sorgt für Ordnung. Energisch.

Trotz des Andrangs ist alles proper organisiert: Vor Knuts Arena haben sie Absperrungen errichtet, mit grau-weiß gestreiften Gittern. Direkt vor dem Gehege gibt's eine Kinderzone, die Erwachsenen müssen ein bisschen dahinter stehen. Um die Massen zu kontrollieren, dürfen die Besucher ohnehin nur in Schüben vors Gehege. Der Sicherheitsmann bewacht die Gitterschleuse.

"Ich will aber zu Knut

Es ist jetzt elf. Knut muss jeden Moment erscheinen. Drinnen, innerhalb der Absperrung, wartet der erste Pilgerschwung. Draußen sind sie nervös. Die Kinder. Und die Erwachsenen. Eine Mutter, die mit fünf, sechs Jungs im Alter von fünf bis neun Jahren hier ist, hat es nicht geschafft, im ersten Schwung mit ans Gehege zu kommen. Jetzt erklärt sie den Kindern, dass man doch auch zu den großen Eisbären, zu Knuts Mama "Tosca" etwa, gehen könne, wenn man beim nächsten Schwung nicht dabei sei. Sie hat keine Chance. "Ich will aber zu Knut", schluchzt der Kleinste. Ein anderer ihrer Schutzbefohlenen setzt schlicht auf Erpressung: "Ich habe meiner Mutter aber versprochen, dass wir ein Foto von Knut machen," krakeelt er. Alles andere als der leibhaftige Knut wäre ein Desaster. Das weiß auch diese Mutter. Sie guckt etwas verzweifelt.

"Die Großen sollen auf Bäume klettern"

Eine Vierjährige dagegen hat eine Idee, wie man die Sache beschleunigen könnte. "Die großen Leute sollen doch auf Bäume klettern, dann können die Kleinen unten schneller vorgehen", schlägt sie pragmatisch vor. Auf einer Nebenburg der großen Holzburg haben sich inzwischen fünf, sechs Kinder postiert. Sie haben eine prima Aussicht. Das Wetter ist schön. Und deshalb brüllen sie wie von Sinnen über die Köpfe der wartenden Masse hinweg: "Knut ist der Beste! Knut ist der Beste! Knut ist der Beste!"

Eine Schweizer Studentin, die in Berlin lebt, schimpft: "Ich war einmal bei einer Modigliani-Ausstellung in Moskau. Damals dachte ich, der Andrang sei schlimm. Aber das hier, das ist schlimmer. Mit den Massen, das ist ein soziologisches Experiment." Andere bleiben gelassener. Sie decken sich im Souvenirladen ein, der ein paar Meter vom Gehege entfernt ist. Sie kaufen Knut. Als Stofftier. Die kleine Ausgabe kostet 4,95 Euro, die große 6 Euro. Knut-Kissen gibt's auch, Knut-Postkarten sowieso. Knut ist ein gefragtes Modell. In jeder Form.

15.000 Menschen täglich

Und dann ist's soweit. Plötzlich ertönt ein vielstimmiges "Ah", "Oh", "Da isser", "Ich sehe ihn". Die Großen recken die Köpfe, zücken die Digitalkameras, halten sie in die Höhe und knipsen wie die Irren. Da isser! Knut, der Kuschel, und Dörflein, der Pfleger. Der hatte Anfang der Woche mal zwei Tage frei gehabt. Knut habe ihn vermisst, ihn gesucht, erzählen sie in der Zoo-Verwaltung. Wie eine Mutter. Der Bär müsse langsam entwöhnt werden, sagen sie.

Dennoch. Seit Dienstag machen Knut und Dörflein die Show wieder zusammen. 15.000 Pilger kommen derzeit täglich. Und Ostern steht bevor. Da werden es noch mehr sein, viel mehr. Der Pilgerstrom wird seinen Scheitelpunkt erreichen. Das Duo muss sein Bestes geben.

Knut jagt den Pfleger

Sie haben den Spaß hier wirklich gut organisiert. Nach zehn, 15 Minuten meldet sich der Megafon-Mann wieder. "Wir machen jetzt die Schleusen wieder auf. Aber passen Se mir nur auf de Kindaa auf. Ick will nich' det hier eena verletzt wird", berlinert er. "Die Kindaa jehen nich verloren. Machen Se sich keine Sorn." Die Schleuse geht auf. Der zweite Pilgerschwung darf durch. Knut bleibt nichts schuldig. Spielerisch jagt er Dörflein, lässt sich von dem Pfleger hochheben, kneift ihn, hüpft um ihn herum. Wie ein lebendig gewordener Knuddel-Teddybär. "Knut ist der Süßeste! Knut ist der Süßeste! Knut ist der Süßeste!", skandieren sie jetzt auf der Holzburg.

Aber nicht alle sind glücklich. Einige kurz geratene Erwachsene maulen. Sie sehen weniger als die Kinder. "Am meisten sehe ich den Pfleger", schimpft eine Frau. Eine andere hat Knut gesehen, aber ihre Euphorie hält sich in Grenzen: "Jetzt ham wa eine Stunde gewartet. Und jetzt ham wa'n gesehen", kommentiert sie lakonisch. "Na schön. Jetzt jehn wa eben wieda."

"Der ist schöner als im Fernsehen"

Nach zehn Minuten müssen die Besucher die Knut-Zone wieder verlassen. Der nächste Pilgerschwung wartet. Für jene Kinder, die Knut zu Gesicht bekommen haben, hat sich der Besuch offenbar gelohnt. Dicke. "Es war toll, dass er so rumgetobt hat", sagt eine Neunjährige aus Mittenwalde in Brandenburg. "In echt ist der noch schöner als im Fernsehen." Der neunjährige Alexander gelobt, er werde Knut auch noch mögen, wenn der mal groß sei. "Der ist dann bestimmt auch noch süß", versichert er.

Dem achtjährigen Max reicht das nicht. Er hätte Knut auch gern zu Hause. Für immer. Zumindest ansatzweise scheint dieser Wunsch in den nächsten Tagen sogar in Erfüllung zu gehen. Maxens Mutter steht neben ihrem Sohn und flüstert: "Wir haben schon einen kleinen Knut im Rucksack. Aus Stoff. Der ist dieses Jahr unser Osterhase."

Der echte, der leibhaftige Knut, zieht sich an diesem Vormittag erst einmal zurück. Um Punkt zwölf ist Schluss mit seinem Auftritt. Eine Zugabe spart er sich. Die Pilger, die den Star diesmal nicht gesehen haben, werden getröstet. "Die nächste Show ist um 14 Uhr", krächzt es aus dem Megafon. "Wenn Sie Knut jetzt noch nicht gesehen haben, haben Sie dann noch einmal die Gelegenheit dazu."

Die Schlange vor dem Kassenhäuschen ist nun 200 Meter lang.

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