Was passiert, wenn man eine rohe Kartoffel in der Mitte zerteilt? Erstmal nichts. Aber wenn man nach wenigen Tagen noch mal hinguckt, dann hat die Kartoffel an der Schnittstelle eine neue Haut gebildet. Eine Wundverschließung also wie wir sie auch von uns selbst kennen, wenn unsere Haut beispielsweise aufgeschürft ist? "Jede Pflanze, die man abhackt, schließt ihre Verwundung ab", sagt Dieter Volkmann, emeritierter Professor vom Institut für Zelluläre und Molekulare Biologie der Universität Bonn, räumt aber sofort ein: "Das bedeutet nicht, dass die Pflanze Schmerz empfindet wie wir. Schmerzrezeptoren haben wir bei Pflanzen noch nicht entdeckt." Andere Vergleiche zwischen Mensch und Pflanze gehen Dieter Volkmann hingegen leicht über die Lippen. "Pflanzen können sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen", sagt er und macht dann eine kurze Pause, weil er weiß, dass diese These nicht so leicht zu verdauen ist: "Das habe ich schon vor 20 Jahren gesagt, und damit großes Aufsehen erregt."
Verfügen Pflanzen über Nerven?
Die Gemüter sind immer noch nicht abgekühlt. Im Gegenteil, die Debatte um die möglicherweise menschen- beziehungsweise tierähnlichen Wahrnehmungen von Pflanzen wird hitziger denn je geführt. Traditionellen Botanikern stehen die Haare zu Berge, wenn sie hören, was Dieter Volkmann und 120 Fachkollegen aus Europa, Asien und Amerika über die Fähigkeiten von Grünzeug herausgefunden haben wollen. Ihre Forschungsergebnisse haben sie bei einem mittlerweile zum dritten Mal stattgefundenen Symposium ausgetauscht. Die Sache ist also ernst, wie auch das von den experimentierfreudigen Wissenschaftlern neu initiierte Fachmagazin "Plant Signaling and Behaviour" (PSB) beweist. Damit nicht genug: Vor drei Jahren gründeten der Elektrophysiologe Stefano Mancuso aus Florenz und der Zellularbiologe Frantisek Baluska von der Universität Bonn die Gesellschaft für Pflanzenneurobiologie.
Neurobiologie? Heißt das, Pflanzen verfügen sogar über ein Nervensystem? "Pflanzen haben keine Nerven im Sinne wie sie der Mensch hat, aber es gibt eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen, die durchaus vergleichbare Strukturen nahe legen", ist sich Dieter Volkmann sicher. "Pflanzen haben Leitbahnen in denen elektrophysiologische Signale beispielsweise vom oberirdischen Teil zum unterirdischen Teil geleitet werden. Diese Signalübertragung ist um den Faktor 1000 langsamer als bei Nerven." Bei seinen Gegnern löst der Forscher damit eine Tsunami-Welle der Empörung aus. "Kompletter Unsinn", wettert unter anderem David Robinson vom Heidelberger Institut für Pflanzenwissenschaften. Er verweist darauf, dass es keinerlei wissenschaftliche Grundlage für eine solche Behauptung gebe. Einige Botaniker würden mittlerweile um den guten Ruf der Branche bangen, sollten sich die Pflanzenneurobiologen mit ihren Thesen weiter aus dem Fenster lehnen.
David Robinson gelang es vor ein paar Monaten, 32 Kollegen zusammenzutrommeln. In einem gemeinsamen Brief im Fachblatt "Trends in Plant Biology" argumentieren die Wissenschaftler ausführlich gegen die Erkenntnisse der Pflanzenneurobiologen. In dem Schreiben heißt es unter anderem, zwischen Tier- und Pflanzenreich gebe es auf molekularer Ebene zwar Parallelen, und es existierten auch mögliche Hinweise auf pflanzliche Substanzen, die wie Neurotransmitter wirkten. Auch würden Signale über größere Entfernungen versendet und empfangen. Aber, so die Botaniker weiter: "Bei Pflanzen gibt es auf keinen Fall vergleichbare Strukturen auf der Ebene der Zellen, der Gewebe oder der Organe."
"Diese dämliche Idee stirbt bald aus"
Die Fraktion der Gegner vermutet starke finanzielle Interessen. "Diese Leute wollen nur Aufmerksamkeit erzeugen, um Geldgeber an Land zu ziehen", meint David Robinson, ist sich aber sicher: "Diese dämliche Idee stirbt bald aus und ist dann weg vom Tisch." Doch wer Dieter Volkmann weiter zuhört, merkt schnell, dass sich die Pflanzenneurobiologen nicht so schnell geschlagen geben: "Wir wehren uns dagegen, dass man uns durch Stimmungsmache mundtot machen will." Man könne Wissenschaft nicht betreiben, indem man sich an Dogmen klammere und neue Thesen verbiete. Das erinnere ihn an einen Streit vor rund 80 Jahren, als das Hormon Auxin in Pflanzen entdeckt wurde. Das Geschrei sei damals groß gewesen, Hormone kämen bei Pflanzen nicht vor. Heute spreche man wie selbstverständlich von Pflanzenhormonen.
"Wo bleibt diesmal die Neugierde meiner Kollegen?", wundert sich Volkmann. Für ihn jedenfalls steht fest: eine Neubewertung von Pflanzen sei angesichts vieler neuer Erkenntnisse dringend notwendig. Leider reiche das bisherige Vokabular nicht aus, um die pflanzlichen Vorgänge zu beschreiben. Deshalb müsse man auf Begriffe aus der Tier- und Menschenwelt zurückgreifen, die aber keinesfalls eins zu eins verstanden werden dürften. Doch: die Nähe von Pflanzen zu unterentwickelten Tieren dürfe "durchaus vermutet" werden.
Weintrauben mögen klassische Musik
In ihren jüngsten Forschungen konnten Pflanzenneurobiologen laut Volkmann zeigen, dass Weintrauben, die regelmäßig mit klassischer Musik beschallt wurden, größere und süßere Früchte trugen. Der italienische Kollege Stefano Mancuso habe weiter nachgewiesen, dass sich die Pflanzenwurzeln von Maiskeimlingen zu einer Tonquelle hinwenden und bei höheren Frequenzen schneller wachsen. "Die Pflanze hat natürlich keine Ohren, aber auf der molekularen Ebene vermutlich eine sehr ähnliche Ausstattung, die es ihr erlaubt, unterschiedliche Frequenzen wahrzunehmen", erklärt Volkmann. Bei tieferen Frequenzen beispielsweise, etwa bei Popmusik, würden sich Pflanzen sogar abwenden. Natürlich ist auch das ein gefundenes Fressen für die Kritiker. "Mit diesen Thesen wird der Esoterik Tür und Tor geöffnet", schimpft Elmar Hartmann, Pflanzenphysiologe an der FU Berlin. Es gebe keinen Grund, warum Pflanzen ein Gehör entwickeln sollten. "Was nützt es Pflanzen, wenn ein Rudel Wölfe vor ihnen steht und sie anheult? Sollen sie dann samt Wurzelwerk weglaufen?" Elmar Hartmann plädiert dafür "eine Pflanze eine Pflanze sein zu lassen": "Ist denn die Welt der Flora nicht faszinierend genug?"
Längst erforscht ist die Kommunikation unter Pflanzen, wie Dieter Volkmann sagt: "Tabakpflanzen zum Beispiel warnen sich gegenseitig via Duftstoffe vor Fressfeinden. Sie produzieren vermehrt Nikotin, um ihre Feinde zu töten." Die Kommunikation laufe unterirdisch ab, also im Wurzelbereich. Dort soll auch, wie Pflanzenneurobiologen vermuten, ein koordinierendes System existieren. Immerhin empfangen Pflanzen ein gutes Dutzend Umweltsignale, unter anderem Licht, Wind, Temperatur, Bodenstruktur und Feuchtigkeit - und reagieren darauf. "Wir behaupten natürlich nicht, die Pflanze habe ein Gehirn", wendet Volkmann ein. "Aber es muss ein System geben, dass es der Pflanze ermöglicht, alle Signale in Überblick zu bekommen und darauf zu antworten." Die Idee eines Wurzelwerks mit Grips ist nicht neu. Charles Darwin mutmaßte bereits im Jahr 1882: "Die Spitze der Wurzel agiert wie das Gehirn eines der niedrigen Tiere."
Wie hitzig die Debatte auch geführt werden mag, sie ist, so oder so, ein Plädoyer für die Achtung des Menschen vor der Natur. Sowohl Volkmann als auch Hartmann sagen: "Macht euch die Erde untertan, ist einer der blödesten Sprüche, die je in Umlauf gebracht wurden. Wir sehen doch alle die Folgen: die Erde geht kaputt dabei."