Toxische Männlichkeit Psychiater über Rammstein-Vorwürfe: "Die Geschichte des Pop ist auch eine Geschichte der Gewalt"

Rammstein: Till Lindemann während eines Auftritts
Mächtig. Geil. Frontsänger Till Lindemann bei einem Rammstein-Konzert in Düsseldorf im Juni 2022. Weitere Frauen haben Vorwürfe gegen die Band erhoben

© Malte Krudewig / DPA
Der Psychiater Borwin Bandelow erklärt im stern-Interview das fatale Zusammenspiel von Macht, Narzissmus und sexuellen Übergriffen.

Herr Bandelow, Sie haben sich immer mit den dunklen Seiten der Stars beschäftigt. Mit ihren Drogen- und Sexexzessen jenseits der Bühne oder des Filmsets. Frauen haben Vorwürfe gegen Till Lindemann erhoben, die er bestreitet. Nun steht auch der Keyboarder Flake im Fokus. Hat Sie das überrascht?
Niemand kann derzeit sagen, was da wirklich passiert ist, und ich möchte niemanden vorverurteilen. Bevor etwas Gegenteiliges bewiesen ist, gilt die Unschuldsvermutung.

Till Lindemann hat sich wie fast kein anderer als Bad Guy inszeniert. Die Fans lieben ihn dafür. Was fasziniert Menschen an den bösen Jungs?
Die Stars leben das aus, was Fans sich nicht trauen. Sie haben Sex mit vielen Frauen und Männern, brechen Tabus, ihre Texte sind vulgär, ihre Gesten obszön. Sie leben stellvertretend unsere Wünsche und Begierden aus. Dadurch wird unser eigenes Endorphinsystem angestachelt – wir fühlen uns glücklich. Es gibt fast keinen Mega-Star, der nicht irgendwie sexuell erregend auf eine große Menge Menschen wirkt. Mick Jagger, Michael Jackson, Britney Spears, Robbie Williams, sie alle haben diese erotische Wirkung.

Borwin Bandelow
Borwin Bandelow ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie. Bekannt wurde er mit den Bestsellern "Celebrities – vom schwierigen Glück, berühmt zu werden" und "Wer hat Angst vorm bösen Mann?". Er ist ein anerkannter Experte für Angsterkrankungen.

© Eventpress Stauffenberg / Picture Alliance

Stars werden für ihre Tabubrüche belohnt mit Applaus, Aufmerksamkeit, Geld. Was macht das mit einem Menschen?
In der Regel sind das ja narzisstische Persönlichkeiten. Und die machen die Erfahrung, dass alles, was ihnen Schönes passiert, deshalb passiert, weil sie so narzisstisch sind. Also haben sie keinen Grund, mit dieser Strategie aufzuhören, im Gegenteil. Der Tabubruch steigert ihren Marktwert. Viele Skandale wirken deshalb auch kalkuliert, bei Madonna etwa hatte man immer das Gefühl, dass sie zu Marketingzwecken geplant waren; bei anderen hatte man schon den Eindruck, dass die Skandale echt waren wie bei Robbie Williams.

Michael Jackson stand im Verdacht, Minderjährige sexuell zu missbrauchen; der R&B-Sänger R. Kelley wurde deswegen verurteilt. Wie gefährlich sind Mega-Stars?
Die Geschichte des Pop ist auch eine Geschichte der Gewalt. Der Grund dafür ist, dass viele Stars nicht einfach nur ein bisschen narzisstisch sind, sondern unter emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen leiden, auch als Borderline-Syndrom bekannt. Sie haben Probleme, ihre Gefühle und inneren Anspannungen zu steuern. Es kommt zu impulsiven und auch kriminellen Handlungen wie Drogenkonsum, Körperverletzungen, sexuellem Missbrauch. Chuck Berry etwa, den ich als Musiker persönlich sehr schätze, war ein solcher Täter, James Brown oder eben in jüngerer Zeit R. Kelley, der Minderjährige in seinem Haus gefangen hielt. Amy Winehouse war gewalttätig, aber auch depressiv, selbstzerstörerisch und suizidgefährdet.

Das klingt nach einem Freisprechen von jeglicher Verantwortung. Der Star ist leider irre, steht unter Drogen und kann nicht für sein Handeln zur Rechenschaft gezogen werden. Macht man es sich damit nicht zu leicht?
Nein. Das will ich damit nicht sagen. Wer Straftaten begeht, muss verurteilt werden. Da kann man sich nicht auf sein Künstlertum berufen.

Till Lindemann beschreibt in dem Gedicht "Wenn du schläfst" eine Vergewaltigungsfantasie, die sich liest wie eine Anleitung für genau jene Vorwürfe, die nun von jungen Frauen gegen ihn erhoben werden. Künstler wie er berufen sich auf die strikte Trennung von lyrischem Ich und der realen Person. Wie glaubwürdig ist das?
Wenn man alle Songs der Popgeschichte analysieren würde, dann müsste man praktisch jedem Star unterstellen, dass er ein potenzieller Vergewaltiger ist. Drastische, sexistische Songtexte sind Normalität. Auch, weil sie beim Publikum gut ankommen. Die Klientel von Rammstein will diese aggressive, gewalttätige, mit rechten Anspielungen aufgeladene Ästhetik. Bei den meisten Konzerten haben Bands und die Fans einfach nur Spaß an der gemeinsamen Inszenierung, und die Grenze zwischen Fantasie und Realität ist klar. Aus den Texten kann man keine Schlüsse ziehen auf das wahre Wesen des Textschreibers.

Aus Studien weiß man, dass sexuelle Übergriffe und Gewalt gegenüber Frauen in der Musikindustrie toleriert und die Täter geschützt werden, von Managern, Crews, der Security. Das Ganze passiert nicht spontan, sondern geplant, gewollt, mit System. Es müssen viele Leute mitbekommen, dass ein Suck-Room gebaut wird, wo der Star sich in der Pause oral befriedigen lässt. Warum sagt niemand etwas?
Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen bekommen, weil ihnen alles verziehen wird, irgendwann das Gefühl, sie seien unverwundbar, Könige, die sich einfach alles erlauben können. Das bestärkt sie darin, die Grenzen immer weiter zu verschieben. Wenn weibliche Fans dann von Crew-Mitgliedern zu einer Backstage-Party eingeladen werden, besteht eine Asymmetrie. Das ist keine Begegnung auf Augenhöhe. Die Fantasie der Frauen ist, dass sie etwas erleben, das sie hervorhebt aus der Masse und womit sie vielleicht auch vor den Freundinnen angeben können. Die freuen sich über die Einladung, weil sie begeistert sind von dem Star. Die haben vielleicht auch erotische Fantasien, wollen aber nicht automatisch Sex mit alten Männern.

Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um – diesen Vorwurf müssen sich junge Frauen oft anhören.
Dennoch haben sie ein Recht darauf, selbst zu bestimmen, was dort passiert. Die Erfahrung, dass ihre sexuelle Selbstbestimmung missachtet wird, ist schrecklich. Opfer einer Vergewaltigung können jahrelang leiden. Hinzu kommt die Scham und die Sorge, dass ihnen niemand glaubt. Deshalb zeigen viele Frauen die Taten nicht an.

Vor Gericht scheitern viele Klagen, weil häufig Aussage gegen Aussage steht und es keine Zeugen gibt. Der Mann sagt, das war einvernehmlicher Sex, die Frau sagt, es war eine Vergewaltigung. Wie kann das sein?
Studien zeigen, dass das Gros der Missbrauchsopfer bei den Angriffen in eine Art körperliche Starre verfällt. "Freeze" wird diese Reaktion genannt. Das ist eine evolutionäre Überlebensstrategie. Die Täter missinterpretieren das als Einwilligung. Vor Gericht wird ihnen die fehlende Gegenwehr zum Verhängnis.

Auch Frauen beteiligen sich immer wieder an sexuellen Übergriffen und werden zu Mittäterinnen. Die Russin, die für Lindemann weibliche Fans rekrutiert haben soll, oder Ghislaine Maxwell, die für den Milliardär und Sexualstraftäter Jeffrey Eppstein Minderjährige und junge Frauen anwarb. Warum tun Frauen das anderen Frauen an?
Ein Grund ist vermutlich Geld, ein anderer – und der ist wichtiger – ist, dass sie dadurch Macht besitzen. Nicht nur über die weiblichen Opfer, sondern auch über die Männer, die quasi in ihrer Hand und erpressbar sind. Sie wissen ja alles über deren Machenschaften.

In Deutschland wird seit längerem über toxische Männlichkeit gestritten. Gucken die normalen Männer sich da etwas von den Bad Guys ab?
Man muss da unterscheiden zwischen dem normalen Narzissmus, der vielleicht anstrengend, aber harmlos ist, und pathologischen Narzissten, die glauben, dass sie über den Gesetzen stehen. Die findet man in allen Machtsystemen – im Leistungssport, in der katholischen Kirche, in Konzernen, in der Politik. Denken Sie nur an einen Putin oder Trump. Man vermutet, dass bei Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung ein Endorphinmangel vorliegt. Die Ausübung von Macht wird mit einer Ausschüttung von Endorphinen belohnt. Das ist eine Erklärung dafür, warum Betroffene immer weiter machen, die Inszenierungen immer bombastischer werden.

Donald Trump, der im Mai wegen sexuellen Missbrauchs zu fünf Millionen Dollar Schadenersatz verurteilt worden ist, hat gesagt: "Ich fühle mich automatisch zu schönen Menschen hingezogen – ich fange einfach an, sie zu küssen. Ich warte nicht einmal. Und wenn du ein Star bist, dann lassen sie dich das tun. Du kannst alles machen." Der folgende Satz ist dann das weltberühmte "Grab ’em by the pussy." Kann man pathologischen Narzissmus überhaupt therapieren?
Nicht wirklich. Die Betroffenen haben ja keinen Leidensdruck. Aus der Sicht eines Donald Trump klappt doch alles wunderbar in seinem Leben. Zum Therapeuten gehen nur Menschen, die spüren, sie haben ein Problem. Ein Trump denkt, ich habe kein Problem, die anderen haben eins.

Wie kann sich eine Gesellschaft vor den bösen Jungs schützen?
Das ist ganz schwierig. Menschen lieben Stars und verzeihen ihnen selbst kriminelle Handlungen. Weil ihre Performance unser Endorphinsystem stimuliert und leider auch das Vernunftsystem schwächt. Deshalb sind Schutz-Maßnahmen umso wichtiger. Erste Konzertveranstalter schenken beispielsweise Drinks nur noch unter kontrollierten Bedingungen ein, damit Frauen sicher sein können, dass ihnen keine K.O-Tropfen verabreicht werden. Ich denke, das ist ein Anfang.

PRODUKTE & TIPPS