Stadtluft macht klug – neue Beobachtungen zeigen, wie anpassungsfähig Tiere werden, wenn sie dem Menschen in dessen Lebensräume folgen. Viele Tierarten ändern ihre Strategie. Die Menschen zu meiden und vor ihnen zu flüchten, wird immer schwieriger. Der Homo sapiens vermehrt sich hemmungslos und verwandelt den ganzen Planeten in seinen eigenen Lebensraum. Tiere, die dauerhaft überleben wollen, akzeptieren die Herrschaft des Menschen und suchen eine Nische in dessen Welt.
Hier müssen sich nicht nur Sommer und Winter, Regen und Dürre beachten. Ihr neuer Lebensraum ist von den Gewohnheiten und Launen der Menschen abhängig und die ändern sich viel schneller als natürliche Prozesse. Tiere können daher nicht auf althergebrachtes, ererbtes Verhalten vertrauen, sie müssen sich schnell anpassen können – sie müssen klüger werden.
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Gleichsam eingefroren wirkt die Sekunde, bevor die Tibetfüchsin das junge Himalaya-Murmeltier tötet. Stundenlang hat sie den Bau der Nager auf der tibetischen Qinghai-Hochebene belauert, denn ihre drei Jungen sind hungrig. Als ein kleines Murmeltier unvorsichtig aus seinem Erdloch kriecht, sprintet sie los. Erst verfehlt sie die Beute, und das Murmeltier versucht abzudrehen. Doch dann packt sie zu. „Der Moment“ heißt das preisgekrönte Bild des Tibeters Yongqing Bao.
Yongqing Bao, Wildlife Photographer of the Year 2019
Wildschweine sind ein klassisches Beispiel dafür, wie gut Tiere den Menschen einschätzen können. In Deutschland sind die Tiere außerhalb von Bebauungen scheu und verstecken sich am Tag. Innerhalb von Vororten legen sie diese Vorsicht ab und zeigen sich offen– auch mit der ganzen Familie. Der Grund: In Deutschland können Jäger dort nicht auf sie anlegen, weil Abpraller Menschen verletzen könnten.
Waschbären knacken Müll-Sicherung
In Toronto zeigten Waschbären den Menschen, was sie draufhaben, berichtet die "BBC". Dort wie in vielen Regionen in den USA und Kanada haben sich diese Tiere auf Mülltonnen als Speisekammer entdeckt. Die Folgen waren nächtlicher Lärm, umgeworfene Tonnen und verstreuter Müll. Also wurde eine Mülltonne, die als Fort Knox der Müllbehälter dienen sollte – unknackbar für die frechen Räuber. Die Lokalzeitung "The Star" stellte allerdings schnell fest, dass die Waschbären das Drehschloß am Deckel doch aufbekamen. Ein Reporter filmte einen Waschbären, wie er zuerst die Tonnen umwarf und das Schloss aufdrehte. Das war sehr verblüffend, weil Suzanne MacDonald von der York University in Toronto, die Sicherung mit Aberdutzenden von Waschbären getestet hatte, keinem war es gelungen, an den Inhalt zu kommen. "Nur wenige Waschbären haben bislang herausgefunden, wie man die Behälter aufbrechen kann", sagte sie zwei Jahre später. Nun ist sie ratlos: "Ich kann mir offen gesagt nicht vorstellen, wie die Tonnen modifiziert werden könnten, denn einige Waschbären werden immer herausfinden, wie man Dinge kaputtmacht".

Kühn im neuen Lebensraum
Und die Waschbären sind nicht allein. Intelligenz ist wichtig, um Tieren zu ermöglichen, an vom Menschen veränderten Orten zu gedeihen, so Emilie Snell-Rood an der Universität von Minnesota, zur "BBC". Elefanten haben Methoden erlernt, Elektrozäune zu durchbrechen. Japanische Krähen platzieren Nüsse so auf der Straße, dass sie von Auto geknackt werden. Die Krähen sind sogar so klug, die Nüsse vor Ampeln abzulegen, sodass sie Zeit haben, die Leckereien aufzupicken. Londoner Tauben sind dafür bekannt dafür, dass sie mit S-Bahn-Waggons von Station zu Station reisen, um dort die Krümel auf dem Bahnsteig aufzusammeln.
Eigenschaften wie Kühnheit, Flexibilität oder Lust zu neues zu probieren helfen Tieren in der neuen Umgebung Fuß zu fassen, sagte Sarah Benson-Amram von der Universität Wyoming der Sendeanstalt. Doch es ist schwer zu beweisen, ob die Tiere in der Stadt wirklich klüger sind, oder ob sich nur anders verhalten, weil sie in einer anderen Umgebung leben. Das lässt sich an Kojoten zeigen. In Städten bewegen sie sich kühner und sind experimentierfreudiger als auf dem Land. Das kann aber auch daran liegen, dass es in freier Wildbahn mit natürlichen Feinden und angesichts eines Futters, das weglaufen kann, schlauer ist, vorsichtiger zu sein.
Nischen im Menschen-Biotop
Nimmt man die Perspektive der Revolution ein, dann leben Tiere in einer revolutionären Umbruchsituation. Innerhalb eines sehr kurzen Zeitraumes verändern sich die Lebensbedingungen auf den Planeten radikal – so etwas hat es vor dem Menschen nur in Folge von Naturkatastrophen gegeben. In diesem kurzen Zeitfenster dringen einige neugierige und anpassungsfähige Arten in die Lücken des Menschen-Biotops Stadt ein. Dabei zeigt sich auch, dass einige Nagetierarten und andere kleine Säugetiere in einer vom Menschen gestörten Umgebung größere Schädel entwickelt haben. Das kann bedeuten, dass sich auch kognitiven Fähigkeiten entwickelt haben.
Das muss aber nicht bedeuten, dass die Menschen auf Dauer von halbwilden klugen Tieren begleitet werden. Normalerweise besetzen Arten die Nischen in den neu entstandenen Biotopen. Nach einer Phase des evolutionären Umbruchs kehrt Ruhe ein. Nach der Phase der mutigen Intelligenz wird die gefundene Nische verteidigt. Wie die Tiere sich einrichten und welche Arten sich durchsetzen, kann der Mensch kaum beeinflussen. Es ist durchaus denkbar, dass die Tiere sich lieber mühelos von den Nährstoffen in der Kanalisation ernähren, anstand sich als clevere Problemlöser hervorzutun, auch wenn das für den Menschen possierlich anzusehen ist.
Quelle: BBC
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