Fehlt nicht mehr viel, und das Vaterland geht unter. Da ist der Steiner-Sepp ganz sicher. "Dieses linke Pack", schimpft er. Hoch droben auf dem Berg über Gersau im Kanton Schwyz scheint die Wintersonne, im Tal ruht der Vierwaldstättersee unter einer Nebeldecke. Die Leute hier oben, da ist Steiner keine Ausnahme, machen nicht viele Worte. Und wenn, dann sind sie für Fremde ohnehin kaum zu verstehen. Steiner trägt ein gelbes Gewand, ein braunes Fell als Weste darüber und Rauschbart dazu. Ein stattlicher Kerl, groß gewachsen. Er ist Armbrust-Hersteller von Beruf und nebenher der berühmteste Wilhelm-Tell-Darsteller des Landes. Eine Symbolfigur für Tradition in der Schweiz. Und die ist jetzt in Gefahr. Also die Tradition.
Ein Eldorado für Waffennarren
Am kommenden Sonntag stimmen die Schweizer über die so genannte "Initiative zum Schutz vor Waffengewalt ab". Die Debatte darum wird so emotional geführt, als entscheide sie über das Schicksal der Nation. Die Befürworter, dieses linke Pack, liegen in den Umfragen knapp vorn; und wenn sie gewinnen, dann werden demnächst die Schweizer ihre Pistolen aus dem Nachtchäschtli holen müssen und ihr Sturmgewehr aus dem Kleiderschrank und das alles im Zeughaus wegschließen lassen. Die Entwaffnung des tapferen Milizionärs, der nach Ende seiner Wehrpflicht daheim auf den Einsatz wartet - nicht nur für den Steiner-Sepp ist das eine schier apokalyptische Vorstellung. Die Schweizer sind ja quasi die Texaner Europas. In jedem dritten Haushalt eine Feuerwaffe, insgesamt zirkulieren zweieinhalb Millionen Knarren aller Art. Mindestens. So genau weiß das niemand, denn in einem Land, in dem zwar jeder Hund und jede Kuh mit einer Nummer erfasst wird, gibt es kein zentrales Schusswaffenregister. Neulich meldete die Armee, dass ihr rund 4500 Waffen fehlen. Müssen wohl irgendwie verschwunden sein.
Morde, Amok, Suizid
Es ist viel passiert mit den Ordonnanzwaffen. Der Amoklauf im Kantonsparlament von Zug. Das Ehedrama der Skirennläuferin Corinne Rey-Bellet, die von ihrem Mann mit der Offizierspistole erschossen wurde. Ein junger Rekrut, der an einer Zürcher Vorstadtbushaltestelle ein Mädchen abgeknallt hat. Einfach so. Dazu Dutzende Selbstmorde jedes Jahr. Die Initiative wird vor allem von Frauen unterstützt, denen das Zusammenleben mit dem Sturmgewehr unheimlich ist. Die sich bedroht fühlen und oft genug auch bedroht werden. Die Zeitschrift "Annabelle" hat die Initiative groß gemacht, angeführt von einer deutschen Chefredaktorin. Auch das noch. Da dürfen die Frauen seit gerade mal 40 Jahren wählen, schon wollen sie die Jungs entwaffnen. Entwaffnen und Entmannen empfinden viele Schweizer als Synonym.
Wehrhaftigkeit in Gefahr
Die nationalen Mythen verblassen: Das Bankgeheimnis ist amerikanischen Terroristenjägern und einheimischen Datendieben zum Opfer gefallen. Nun ist auch noch die Wehrhaftigkeit in Gefahr. Dabei ist die Heimabgabe der Ausrüstung ein gut 300 Jahre altes Konzept. Je nach Einheit gehörte dazu eventuell auch ein Pferd oder bis vor ein paar Jahren das Armeefahrrad. Im Falle eines Angriffs soll sich der Wehrmann durchschießen bis zum Mobilmachungsplatz. Das war der Plan. Seit zwei Jahren schon hat man dem Wehrmann allerdings die so genannte Taschenmunition abgenommen. Er kann jetzt nur mehr mit der Waffe in der Hand zum Mobilmachungsplatz eilen - und unterwegs allenfalls peng peng rufen.
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"Ich will Bewährtes bewahren"
Im Örtchen Dornach - 6000 Einwohner, drei Schützenvereine - sitzt der ehemalige Nationalrat Willy Pfund in einem kleinen Gasthaus unter einer Vitrine mit schweren Pokalen vom Preisschießen. Herr Pfund ist Präsident der Waffenlobby, sie nennt sich "proTell", und die Sache mit den Morden und Suiziden findet er natürlich auch nicht so super, aber "ein ganzes Volk zu bestrafen, weil sich eine Minderheit falsch verhält", sagt er, "das ist unverhältnismäßig." Ein Selbstmörder werde andere Wege finden, sich umzubringen; ein Amokläufer brauche nur eine Anleitung zum Bombenbasteln aus dem Internet runterzuladen. Mit einem Waffenverbot sei doch niemandem geholfen. Pfund ist bekennender Traditionalist, "ich will Bewährtes bewahren". Die Waffe sei nun mal Teil der nationalen Identität, sie stehe seit Jahrhunderten für Eigenerantwortung und Selbstbestimmung und garantiere Freiheit vor fremden Vögten und Tyrannen im Inneren. Das Gewehr, so sieht das ja auch der Steiner-Sepp, ist sozusagen die moderne Version der Tellschen Armbrust.
Umzug ins Zeughaus
Vielleicht ist das auch das Problem. Die Schweizer sind Opfer ihrer Legenden. "Wilhelm Tell ist doch nur eine Sagen-Figur", sagt der Kabarettist Viktor Giacobbo. Also letztlich so etwas wie der Weihnachtsmann. Giacobbo moderiert mit seinem Partner Mike Müller die beliebteste Politsatire-Show des Landes, jeden Sonntagabend nach dem Tatort, 40 Prozent Einschaltquote. Er sagt: "Wir haben die Tendenz, Politik mit Ideologie zu verwechseln." Deshalb werde oft über Unsinn abgestimmt: über Minarette, die es nicht gibt - oder Waffen, die niemand braucht. Giacobbo war wehruntauglich und leistete seinen Ersatzdienst bei der Feuerwehr. Er sagt: "Da habe ich ja auch nicht den Wasserschlauch mit nach Hause genommen."
Die Schweizer sind ein Volk, das viel zu verlieren hat: Wohlstand, Freiheit, Neutralität. Das ist auch der Hintergrund dieser Diskussion - irgendwas zwischen Besitzstandwahrung und Paranoia. Dass jedes Privathaus in der Schweiz einen voll ausgestatteten Luftschutzbunker haben muss, mit Betten und Toiletten und Umluftanlage, mag man für eine eidgenössische Schrulle halten. Aber - ohne Witz - das Gotthardmassiv fast vollständig auszuhöhlen und mit eigenem Krankenhaus zu versehen, für den Fall, dass der böse Bolschewik einmarschiert, das mutet etwas übertrieben an. Selbst für eine Nation von Guerillakämpfern.
Der aktuelle Konflikt aber spaltet tatsächlich das Land: in jung und alt, urban contra ländlich, Frauen gegen Männer. Giacobbo sagt: "Würde man sie vor die Wahl stellen, würden viele Gegner der Initiative wohl lieber mit ihrer Waffe ins Bett gehen und dafür ihre Frau im Zeughaus abgeben."
Die Schweizer Armee ist ein Männerding, über Jahrzehnte hinweg das wichtigste Netzwerk der Wirtschaft: keine Karriere ohne Offiziersgrad. Was werden diese Leute demnächst bloß machen ohne ihre geliebte Knarre daheim? Viktor Gicaobbo hat da schon mal einen versöhnlichen Gedanken entwickelt: "Ich denke, man sollte den Härtefällen ermöglichen, im Zeughaus zu wohnen."