Kaum ein Thema polarisiert in den USA so sehr, wie das Recht auf Abtreibung. Nun enthüllt ein durchgesickerter Entwurf, dass der Oberste US-Gerichtshof offenbar kurz davorsteht dieses Recht zu kippen. Das Nachrichtenportal "Politico" veröffentlichte am Montagabend den entsprechenden Mehrheitsentwurf der Richter von Februar – ein beispielloser Vorgang.
Darin bezeichnet der konservative Richter Samuel Alito die Grundsatzentscheidung "Roe v. Wade" aus dem Jahr 1973, die das Recht auf Abtreibung garantiert, als "von Anfang an ungeheuerlich falsch". Dieses Recht sei "nicht tief in der Geschichte und den Traditionen der Nation verwurzelt". Das Urteil solle daher zusammen mit einer weiteren Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch ("Planned Parenthood v. Casey") "aufgehoben" und "die Frage der Abtreibung an die gewählten Volksvertreter zurückgegeben" werden, erläuterte Alito.
Nach Bekanntwerden des Artikels kam es vor dem Gerichtsgebäude in Washington zu spontanen Demos. Sowohl Befürworter:innen als auch Kritiker:innen stimmten sich lautstark auf eine neue Runde in dem seit Jahrzehnten andauernden Kampf um das Abtreibungsrecht ein.
"Roe v. Wade" auf der Kippe: Entwurf bedroht Abtreibungsrecht
In den USA ist das Thema Abtreibung so umstritten wie kein zweites. Im Jahr 1973 hatte der Oberste Gerichtshof in "Roe v. Wade" den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen als verfassungsmäßiges Recht jeder Frau verankert. Knapp zwanzig Jahre später garantierte das Gericht im Fall "Planned Parenthood v. Casey" das Recht auf Abtreibung, bis der Fötus außerhalb des Mutterleibs lebensfähig wäre – in der Regel nach der 22. bis 24. Schwangerschaftswoche.
Seitdem gibt es zahlreiche Versuche von erzkonservativen Abtreibungsgegnern, die Urteile anzufechten. Mehrere republikanische regierte Bundesstaaten haben in Erwartung der Supreme-Court-Entscheidung bereits schärfere Abtreibungsgesetze beschlossen. So gilt in Texas bereits seit September das umstrittene "Herzschlag-Gesetz", das Abbrüche etwa ab der sechsten Schwangerschaftswoche verbietet. Sollten beide Urteil gekippt werden, zeigt eine Analyse des "Guttmacher Institutes", dass mindestens 23 US-Bundesstaaten weitgehende Abtreibungsverbote einführen würden.
Dem "Politico"-Bericht zufolge wollen die vier konservativen Richter Clarence Thomas, Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett die Meinung von Alito unterstützen. Die drei liberalen Verfassungsrichter Stephen Breyer, Sonia Sotomayor und Elena Kagan arbeiteten hingegen an abweichenden Meinungen. Offen blieb demnach, wie der Oberste Richter John Roberts abstimmen würde. So oder so hätte die konservative Seite jedoch die klare Mehrheit, um ihren Entschluss durchzusetzen. Die endgültige Entscheidung der Verfassungsrichter wird für Juni erwartet.
"Hat noch nie ein solches Leak gegeben"
Doch gerade weil die Debatte um das Recht auf Abtreibung so emotional und hochpolitisiert ist, verwundert die vorzeitige Veröffentlichung des 98-seitigen Gutachtens. Ein solcher Fall ist in der modernen Geschichte des Gerichtshofs höchst ungewöhnlich: Frühe Gutachtenentwürfe sind praktisch nie vor der endgültigen Entscheidung durchgesickert – und erst recht nicht in einem so folgenschweren Fall – zumal sich die Entwürfe bis zur offiziellen Bekanntgabe oft noch ändern. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass es noch nie ein solches Leak gegeben hat", meint auch der Jurist und ehemalige Oberste US-Anwalt, Neal Katyal, zu dem Entwurf. Er halte das Dokument jedoch für echt.
Kurz nach der Veröffentlichung des Artikels schickten die "Politico"-Chefredakteure Matthew Kaminski und Dafna Linzer eine E-Mail an ihre Mitarbeiter, in der sie die Authentizität des Dokuments betonten. Darin versicherten beide, dass der Entwurf "einem umfangreichen Überprüfungsprozess" unterzogen worden sei und bezeichneten ihn als "eine Nachricht von eindeutig großem öffentlichen Interesse". Dem Nachrichtensender CNBC zufolge bestätigte der Oberste Richter John Roberts die Echtheit des Entwurfs. Roberts habe aber betont, dass der Entwurf nicht die endgültige Entscheidung des Gerichts darstelle und er eine Untersuchung der undichten Stelle angeordnet habe.
Recht auf Abtreibung spaltet Demokraten und Republikaner
Welch weitreichende Folgen ein solches Urteil hätte, wurde am Montag vor den Stufen des Gerichtsgebäudes in Washington sichtbar. Nach Veröffentlichung des "Politico"-Berichts versammelten sich dort spontan hunderte Menschen vor dem Obersten Gerichtshof, um für und gegen eine Abschaffung des Abtreibungsrechts zu protestieren. Sie stehe "buchstäblich unter Schock", sagte die 23-jährige Abby Korb. "Abtreibungen illegal zu machen, wird sie nicht beenden, sondern nur gefährlicher machen." Andere, wie die 55-jährige Claire Rowan, Mutter von sieben Kindern und Abtreibungsgegnerin, sagte, sie hoffe nun, dass die Menschen "Gott um Vergebung bitten", damit die USA "heilen" könnten.
Wie bei so vielen Themen in den Vereinigten Staaten, verläuft die Spaltung auch beim Abtreibungsrecht entlang der politischen Linien. Scharfe Kritik kam von führenden Demokraten. Die Abschaffung des Abtreibungsrechts wäre "eine der schlimmsten und schädlichsten Entscheidungen in der modernen Geschichte", erklärten die Vorsitzende Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, und der Chef der demokratischen Senatoren, Chuck Schumer.
Auch die Organisation Planned Parenthood, die landesweit Abtreibungskliniken betreibt, bezeichnete den geleakten Entwurf als "empörend". Es würden "unsere größten Befürchtungen wahr", erklärte die Organisation. Für Schlagzeilen sorgte auch der Online-Riese Amazon, der ankündigte, seinen Angestellten in den USA künftig die Reisekosten für Abtreibungen zu erstatten. Eine Reihe von Unternehmen hatte als Reaktion auf drohende, lokale Verschärfungen des Abtreibungsrechts bereits ähnliche Schritte verkündet.
"Das ist die beste und wichtigste Nachricht unseres Lebens", kommentierte hingegen die republikanische Abgeordnete Marjorie Taylor Green. Der Senator Josh Hawley forderte den Gerichtshof auf, die endgültige Entscheidung "jetzt" zu veröffentlichen.
Supreme-Court-Urteil könnte Midterms beeinflussen
Nur wenige Monate vor den entscheidenden Zwischenwahlen im US-Kongress, könnte das anstehende Urteil des Supreme Court richtungsweisend für das amerikanische Recht – und damit auch die amerikanische Politik sein. Sollte der Oberste Gerichtshof das Abtreibungsrecht – wie im Entwurf angekündigt – aushebeln, dürfte dies neue Streitereien im Kongress sowie in den Bundesstaaten darüber entfachen, ob und wie Schwangerschaftsabbrüche künftig begrenzt werden sollen.
US-Präsident Joe Biden kündigte sogleich Gegenwehr an. Es brauche ein landesweites Gesetz, welches das Recht auf Abtreibung schütze, sagte der Präsident am Dienstag. Er wolle sich dafür einsetzen, dass ein solches Gesetz "verabschiedet und unterzeichnet" werde. Der Oberste US-Gerichtshof dürfe sein Grundsatzurteil zu Abtreibungen von 1973 nicht kippen. "Wir werden bereit sein, wenn eine Entscheidung ergeht", so Biden.
In seiner Mitteilung hob der Präsident das Recht einer Frau auf Entscheidungsfreiheit hervor – und appellierte mit Blick auf die Wahlen im November, dass es an den Wählerinnen und Wählern liegen würde, Abgeordnete und Senatoren zu wählen, die dieses Recht unterstützen. Denn mit den aktuellen Mehrheiten im Senat könnten Bidens Demokraten ein solches Gesetz nur mit Müh und Not durchbringen.
Quellen: "Politico", "Court Draft", "NY Times", "CNN", Twitter, mit AFP-Material