Drei Bundeswehrsoldaten sterben am Karfreitag in einem Hinterhalt der Taliban. Patrouillen der Deutschen werden fast wöchentlich angegriffen. Die Bundesregierung, wie auch andere westliche Regierungen, schicken dieses Jahr noch einmal Hunderte Millionen Euro mehr nach Afghanistan. Die US-Regierung hat ihre Truppen um Zehntausende Soldaten verstärkt, um für die zunehmend unter Druck geratene afghanischen Regierung im Süden des Landes den Kampf gegen die Taliban mit Wucht zu führen.
Und was tut Afghanistans Präsident Hamid Karsai? Behauptet in einer Fernsehansprache und vor Parlamentariern, die Ausländer seien "Eindringlinge", die sich in Afghanistans innere Angelegenheiten einmischen würden und die Präsidentschaftswahlen vergangenen August gefälscht hätten. Wenn das so weitergehe, werde er persönlich zu den Taliban überlaufen.
Es ist nicht bekannt, was die Taliban zu diesem Angebot sagen.
Ein doppeltes Missverständnis
Aber man fragt sich: Was bewegt den Mann? Karsais Gegenkandidat bei den Wahlen, Abdullah Abdullah, sagte, er mache sich Sorgen um die psychische Verfassung des Präsidenten. Aber Karsais Ausfälle sind rationaler, als sie erscheinen. Genaugenommen: Sind die das Ergebnis eines jahrelangen Missverständnisses auf beiden Seiten.
Es begann mit dem Missverständnis der Amerikaner, genau genommen der Regierung von George W. Bush, ein gutaussehender Afghane, der englisch spricht und keine Widerworte gibt, wäre ein geeigneter Präsident. Also machten sie ihn dazu, und schon die ersten Wahlen 2004 waren eine Farce. Nur wollte im Westen keiner hören, dass der "bestangezogenste Präsident der Welt" sich weit mehr um die mafiosen Geschäfte seiner Familie sorgte als ums eigene Land.
Das Missverständnis Karsais liegt darin zu glauben, nur, weil er auf völlig undemokratischen Anfängen an die Macht gekommen ist, diese auch auf ewig behalten zu dürfen. Vergangenes Jahr war er so besessen davon, seine Macht nicht infrage stellen zu lassen, dass er Wahlen fälschen ließ, die er mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auch legal gewonnen hätte. Aber das reichte ihm nicht - weil er nie verstanden hat, wie das System funktioniert. Er findet, er habe ein Recht zu herrschen. Und seine Brüder finden das erst recht.
Dreister Wahlbetrug
Es lohnt sich, den Verlauf der Wahlen ein wenig zurückzuverfolgen: Tage nach der Stimmabgabe Ende August liefen auf den privaten Fernsehkanälen Videomitschnitte, die Mitarbeiter der Wahlbeschwerdekommission, aber auch Passanten aufgenommen hatten: Wie in den Sammelzentren der Urnen Polizeibeamte, Leute in Zivil vollkommen schamlos Wahlzettel im Akkord ausfüllten, in die Urnen stopfen, kichernd, beinahe stolz auf ihr Tun. Rasch stellte sich heraus, dass mindestens ein Viertel der Stimmen gefälscht waren: Stimmzettel, die en bloc in den Urnen lagen, die von einer Hand ausgefüllt worden waren und so weiter.
Die Wahlbeschwerdekommission ECC war die Zentralstelle der Überprüfung - geleitet von einem kanadischen Diplomaten, waren drei ihrer fünf Mitglieder des Leitungsgremiums Ausländer. Von den beiden Afghanen wurde jener, der nicht Karsai ergeben war, so massiv vom Regierungspalast unter Druck gesetzt, dass er seine Familie fortschaffte und Angst hatte, die Zeit bis zu Bekanntgabe eines anerkannten Resultats nicht zu überleben.
Peter Galbraith, Vize der Kabuler UN-Mission, sah, wie Karsais Team sich massiv gegen alle Versuche der Wahlüberprüfung wehrte. Als er Zeuge wurde, wie der von Karsai ausgesuchte Vorsitzende der Wahlkommission, Aziz Ludin, versuchte, die bereits aussortierten, gefälschten Stimmen wieder als gültig zählen zu lassen, prangerte er die Wahlfälschung öffentlich an.
Das fand UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon inopportun und entließ Galbraith. Doch die Fälschungen ließen sich nicht mehr vertuschen, auf massiven Druck der US-Regierung stimmte Karsai einem zweiten Wahlgang zu, der nur deshalb nicht zustande kam, da sich sein Gegenkandidat zurückzog, nachdem niemand der Wahlverantwortlichen ausgetauscht worden war.
Zur Partnerschaft verdammt
Jetzt hat Karsai die Wirklichkeit einfach auf den Kopf gestellt, und die Ausländer der Fälschung bezichtigt. Damit ihn überdies niemand mehr daran hindern kann, auch die kommenenden Parlamentswahlen in eine Farce zu verwandeln, hatte er bereits im Februar ein Dekret erlassen, dass der ECC künftig nur noch Afghanen angehören dürfen, direkt oder indirekt von ihm bestimmt. Dass selbst seine eigenen Anhänger im afghanischen Unterhaus dagegen votierten, störte ihn nicht. Wahlleiter Aziz Ludin kündigte an, das Gesetz werde veröffentlicht und damit gültig sein. Proteste von internationaler Seite - noch im Januar hatte Karsai das Gegenteil von dem versprochen, was er dann tat - Fehlanzeige. Das US-Außenministerium lobte kleinlaut die "Afghanisierung" der kommenden Wahlen. Deutschland schwieg.
Selbst seine jetzigen Ausfälle wurden von US-Politikern und Militärs heruntergespielt. Man "sei frustriert", sagte Robert Gibbs, der Sprecher des Weißen Hauses, aber werde weiter mit Karsai zusammenarbeiten.
Alles für Macht und Geld
Warum also sollte sich Hamid Karsai nicht auf Kosten jener profilieren, die ihn an der Macht halten? Sie halten doch eh an ihm fest. Kochend vor Wut zwar, wenn man sich mit Diplomaten unterhält - aber zugleich hilflos und uneinig. Jahrelang haben vor allem die USA Karsais schamlos korruptem System nicht nur zugesehen, sondern es nach Kräften gefördert: So hält der Sohn des Verteidigungsministers Abdul Rahim Wardak weiterhin einen 360 Millionen US-Dollar schweren Vertrag zur Versorgung der US-Militärbasen im Land. Obwohl er selber keinen einzigen Lkw besitzt, sondern zig Subunternehmer anheuert, die ihrerseits Schutzgelder an die Taliban zahlen. Und über Karsais Halbbruder Ahmed Wali Karsai, der wie ein kleiner König über Kandahar herrscht, auf dessen Anwesen amerikanische und britische Soldaten zig Tonnen Opium gefunden haben und dessen Miliz unter anderem in die Ermordung des Polizeichefs von Kandahar verwickelt sein soll, hält bislang die CIA ihre schützende Hand.
Es geht doch, mag sich Hamid Karsai sagen. Die Internationale Gemeinschaft hat lange an ihrer Illusion festgehalten, eine afghanische Regierung aufzubauen, die den Abzug ihrer Truppen ermöglicht - so lange, dass nun niemand weiß, wie man diesem Selbstbetrug entkommen kann. Sie haben Karsai gepriesen als Partner, der er nie war. Und sich damit erpressbar gemacht.
Denn der Zeitpunkt von Karsais verbalem Amoklauf war nicht zufällig und hat auch nicht nur mit den Wahlen zu tun. Nüchtern sagte es vor Tagen Gulab Mangal, ein Stammesführer aus der Ostprovinz Khost: "Als die Internationale Gemeinschaft begann, seinen Bruder Ahmed Wali zu kritisieren, hat Karsai begonnen, sich querzustellen." Dabei es geht es um weit mehr als Kritik: Kernstück der kommenden US-Offensive in Kandahar sei, so US-Militärs inoffiziell, Ahmed Wali abzusetzen. Mit ihm sei eine halbwegs rechtstaatliche Regierung im Süden unmöglich.
Das aber möchte Hamid Karsai verhindern. Um ziemlich jeden Preis.