Analyse Gipfel ohne Sieger

Es war ein dramatischer, unterhaltsamer EU-Gipfel. Echte Sieger gab es jedoch nicht. Für die Europäische Union ist das Ergebnis ein Erfolg, aber kein Befreiungsschlag. Und Angela Merkel hat viel erreicht, alles riskiert - und eben doch auch fast verloren.

Für jeden Politikjunkie, der sich an der politischen Show ergötzt, war die Nacht von Freitag auf Samstag ein Fest. Die Verhandlungen auf dem Brüsseler Gipfel hatten alles, was ein Politik-Krimi braucht. Angela Merkel, die Deutsche, duellierte sich mit den Kaczyinski-Zwillingen, den Polen. Alle Mittel waren erlaubt. Und keine der beiden Gegenspieler war zimperlich. Ein Faustschlag ins Gesicht: Nein, mit Deinem Angebot kannste nach Hause gehen, Angela! Gefolgt von einer sofortigen Replik, auch mit der Faust, auch mitten ins Gesicht, und so hart, dass die polternden Zwillinge wanken mussten: Wenn Ihr das nicht wollt, dann machen wir EU eben ohne Euch! Bums. Das saß. Ein Ergebnis brachte dieses Tit-for-Tat jedoch nicht. Dazu bedurfte es der vermittelnden Dienste des zackigen EU-Debütanten Nicholas Sarkozy und des Auslaufmodells Tony Blair. Wie diese, und allen voran der Franzose, sich anschließend eitel ihrer Leistungen rühmten, war ebenfalls fast schon an sich eine Klamotte.

Jenseits der Politikjunkies und jenseits der pflichtgemäßen Selbstbeweihräucherung gab es am Samstagmorgen jedoch kaum Sieger, die Anlass zum Triumph hatten. Die Europäische Union jedenfalls ist bestenfalls ein Mini-Sieger. Der Gipfel hat Bewegung in den Laden gebracht. Aus der Schockstarre, die mit den ablehnenden Referenden in den Niederlanden und in Frankreich 2005 eingesetzt hatte, beginnt sich die EU nun zu lösen. Ganz langsam. Aber immerhin. Und der Weg für die dringend notwendigen institutionellen Reformen ist nun zumindest geebnet. Das ist schon etwas - viel mehr auf jeden Fall! - als man zu Anfang des deutschen Vorsitzes im Januar hatte erwarten können. Die Vorschläge der EU-Regierungschefs sind so gut wie bindend für die Regierungskonferenz, die im Herbst unter portugiesischem Vorsitz einberufen werden soll. Die Vorgaben sind klar, man wird zügig arbeiten können. Und das ist gut für Europa. Das ist ein Plus.

Ein Befreiungsschlag war das nicht

Ein Minus ist es allerdings, dass von einem Befreiungsschlag für Europa keine Rede sein kann. Der Brüsseler Deal ist ein typischer EU-Kompromiss, rechtlich unendlich vertrackt und kompliziert, garniert mit dem EU-Fachchinesisch der Kompromisse - oder wissen Sie, was es mit dem Ioannina-Kompromiss so genau auf sich hat? Dort, wo es darauf angekommen wäre, die Entscheidungsstrukturen des Rates effizienter und effektiver zu gestalten, dort musste man einen kleinsten gemeinsam Nenner hinnehmen. Ja, die doppelte Mehrheit (55 Prozent der Staaten plus 65 Prozent der Bevölkerung) konnte Merkel gegenüber den scharfen Attacken der Kaczynskis abwehren. Aber die dringend notwendige Reform kommt dafür frühestens 2014. Auch dieser Kompromiss ist eher ein Beleg dafür, dass die EU irgendwie weiter wurstelt. Dort, wo man eigentlich einen gemeinsamen Auftritt, die Vorstellung einer Firmenphilosophie erwartet hätte, dort klafft in der EU immer noch ein Loch. Wozu, darf man fragen, ist der Laden eigentlich gut. Auch die Charta konnte diese Orientierungslosigkeit nicht in eine Euphorie verwandeln. Und wie man den Bürgern erklären will, dass die EU zwar stets Transparenz predigt, sobald es aber konkret wird, in eine Art Räubersprache aus Fachjargon zurückfällt, das ist ohnehin völlig schleierhaft.

Hoher Einsatz für Frau Merkel

Auch Angela Merkel ist keine Siegerin auf der vollen Linie. Zwar haben sie und ihr Regierungsapparat die EU-Ratspräsidentschaft der Deutschen im vergangenen halben Jahr exzellent vorbereitet und betreut - und dafür allenthalben Lob geerntet. Zwar hat sie den Polen die ominöse Quadratwurzel ausgeredet. Zwar hat sie mit ihrer massiven Drohung gegenüber Warschau deutlich gemacht, dass sie mutig genug ist, auf dauernde, kindische Querschüsse und eine dauerhafte Blockadehaltung entschlossen zu reagieren - sogar mit der untypischen Pose der öffentlich Drohenden. Aber das alles ist nur ein Teil des Bildes. Der andere Teil zeigt eine Merkel, die hoch gepokert hat, höher vielleicht, als sie es innenpolitisch jemals zuvor gewagt hat - und fast verloren hätte. Hätten sich etwa am Ende nicht 26, sondern vielleicht nur 20 oder 21 Staaten für eine Regierungskonferenz ohne Polen ausgesprochen, wäre das ein Desaster gewesen für die Kanzlerin.

Auch im Streit um die doppelte Mehrheit, die Vorbedingung für eine handlungsfähigere Union, konnte sie sich nur teilweise durchsetzen. Die letzten Fristen sollen nach jetziger Planung erst 2017 auslaufen. Das ist eine sehr entfernte Perspektive - auch wenn man sich, siehe oben, immer gewahr sein muss, mit welchen geringen Erwartungen die Deutschen im Januar in den Vorsitz gestartet waren. Und so hat die Strahlkraft von Merkels bislang blitzsauberer außenpolitischer Bilanz etwas nachgelassen. Schlecht hat sie nichts gemacht, vieles gut, aber für einen glorreichen Sieg hat es an diesem Wochenende dennoch einfach nicht gereicht. Tröstlich ist da nur, dass auch die Kaczynski-Brüder in dieser Nacht bemerkt haben, dass sie sich mit ihrer Sturheit keinen Gefallen erwiesen haben. Die überwältigende Mehrheit der EU-Staaten war bereit, notfalls ohne Polen voranzuschreiten. Auch Warschau muss bemerkt haben, dass es die europäische Solidarität in den vergangenen Wochen überstrapaziert hat - trotz des Erfolgs, die Einführung der doppelten Mehrheit verzögert zu haben.

Kompromiss löst keinen Jubel aus

Und so wird dieser Gipfel zwar als ein spannender Gipfel in die Geschichte der EU eingehen, vielleicht sogar als ein Gipfel, auf dem es der EU unter Schmerzen gelang, eine Wende einzuleiten, einen ersten Schritt aus der Krise heraus zu tun. Aber es wird auch ein Gipfel sein, der in der langen Tradition der typischen EU-Gipfel steht - für die Bürger schwer verständlich, mit seinen Riten und Kompromissen nur schwer nachvollziehbar. Das reicht nicht, um Angela Merkels Leistung zu schmälern, aber das reicht auch nicht, um die Bürger wieder für die europäische Einigung zu begeistern. Echte Sieger gibt es nach diesem Gipfel nicht.