Das plötzliche Ausscheiden des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon aus dem politischen Leben bedeutet für Israel das Ende einer Ära. Nach einer dramatischen Nacht, in der viele seiner Landsleute schockiert die Nachrichten aus dem Hospital verfolgten, sprachen Ärzte am Donnerstag von geringen Aussichten auf eine vollständige Genesung des 77-jährigen. Auch Vertraute aus den Reihen von Scharons neuer Partei Kadima stellen sich darauf sein, dass er nicht mehr Regierungschef sein kann.
"Selbst wenn der Ministerpräsident, wie durch ein Wunder, unversehrt zurückkehrt, wird sich seine politische Situation geändert haben", kommentiert die israelische Tageszeitung "Jedioth Achronot". Sie schreibt von einer "letzten Schlacht" Scharons, die die politische Situation im Land umkrempele. Im Streit über den weiteren Kurs im Konflikt mit den Palästinensern hatte Scharon am 21. November den Likud-Block verlassen und die neue Partei Kadima gegründet. An deren Spitze wollte er sich am 28. März um das Mandat für eine dritte Amtszeit bewerben. Die Kadima, die gestern registriert (ins Parteienverzeichnis eingetragen) wurde, wurde als Ein-Mann-Partei aus der Taufe gehoben. Scharon war der Anführer und die Botschaft. Selbst bei einer Besserung seines Gesundheitszustandes würde Scharon die Wähler erst überzeugen müssen, dass seine Partei das Land auch ohne ihn führen könnte.
Chancen für Partei Scharons
Etwa ein Drittel der Wähler in Israel wäre bisher nach Umfragen bereit gewesen, Scharon und seiner Partei ihre Stimme zu geben. Der Ex-General und Politiker, dem oftmals Methoden eines Bulldozers nachgesagt wurden, hat in den Augen vieler Israelis den Wandel zum Staatsmann vollzogen. Der einst als "unwählbar" bezeichnete Scharon, hat sich ihnen unverzichtbar gemacht. Er hat den Israelis ein politisches Programm vorgelegt, das den Abzug aus einigen Palästinensergebieten damit verknüpfte, Teile des besetzten Westjordanlandes "für immer" zu beanspruchen und mit einer Sperranlage abzutrennen.
Deswegen gilt Scharon den Palästinensern auch nach dem Abzug aus dem Gazastreifen nicht als Mann, der zu einem friedlichen und gerechten Ausgleich im Nahost-Konflikt bereit gewesen wäre. Scharons Bedeutung liege aber darin, dass er getroffene Vereinbarungen in Israel habe durchsetzen können, sagen Palästinenservertreter. Scharons Ausscheiden aus dem Führungsamt könne in Israel zu einem Machtvakuum auf Kosten der Palästinenser führen, warnte deren Chefunterhändler Sajeb Erekat.
Völlige Erholung unwahrscheinlich
Die Lage in den Palästinensergebieten könne sich zunächst verschlechtern, meint der palästinensische Kommentator Hani Masri in Ramallah. Langfristig werde Scharons Abwesenheit besser für die Palästinenser sein, weil er starke internationale Unterstützung für seine Politik gehabt habe, meint Masri. "Scharon konnte ohne Kritik und Widerspruch tun und lassen, was er wollte. Für die Zukunft der Palästinenser war dies eine ernste Gefahr. Scharon war dabei, einen palästinensischen Ministaat zu schaffen. Er hat den Friedensprozess gestoppt. Die Themen Jerusalem und palästinensische Flüchtlinge wollte er von der politischen Landkarte wischen", erklärt Masri.
Doch ein politisches Durchstarten Scharons, wie er es nach der für Ende März geplanten Parlamentswahl beabsichtigt hatte, schien am Donnerstag unwahrscheinlich. Auch wenn Scharon die kommenden Tage überlebe, werde er für lange Zeit im Krankenhaus bleiben müssen, erklärten Ärzte. Fachleute diskutieren, ob ein Mittel zur Blutverdünnung, das Scharon seit seinem leichten Schlaganfall Mitte Dezember bekomme hatte, zu der schweren Gehirnblutung beigetragen habe. Der Direktor des Jerusalemer Hadassa-Krankenhauses, Schlomo Mor-Josef gab keine Prognose über eine vollständige Genesung Scharons ab. Neurochirurgen, die nichts mit dem Fall direkt zu tun haben, erklärten aber, nach einem derart schweren Schlaganfall sei eine völlige Erholung des Patienten unwahrscheinlich. "Wenn sie zwei Mal operieren müssen, ist das kein gutes Zeichen", sagte Dr. Emil Popovic, ein australischer Neurochirurg. "Mit 77 Jahren erholen sich nicht mehr viele Patienten von einer Hirnblutung."
Scharons Stellvertreter übernimmt Regierungsgeschäfte
Scharon selber habe vor einer für Donnerstag geplanten Herzoperation zurückgeschreckt, berichten israelische Medien. Scharon, der selbst keinem Konflikt aus dem Weg ging, habe die Behandlung gescheut. Einen bitteren Schlagabtausch habe er stets dem Gang zum Zahnarzt vorgezogen. Über seine strotzende Gesundheit habe Scharon Scherze gemacht. Nun habe er den Stuhl des Ministerpräsidenten verlassen, ohne einen Nachfolger aufgebaut zu haben.
Scharons Stellvertreter Ehud Olmert übernahm die Regierungsgeschäfte, während sich Israel auf das Ende einer Ära einstellte: "Das letzte Gefecht" lautete die Schlagzeile der Zeitung "Jediot Ahronot". Rabbiner riefen zu Gebeten für Scharon in den Synagogen auf. Im gesamten Nahen Osten machte sich Ungewissheit breit; palästinensische Politiker sahen ihre Wahl am 25. Januar durch Scharons Krankheit gefährdet. Zwei US-Gesandte und der japanische Ministerpräsident Junichiro Koizumi sagten kurzfristig Nahostreisen ab. Der israelische Aktienmarkt brach um 6,2 Prozent ein. Aus Scharon nahe stehenden Kreisen verlautete, man rechne nicht mehr mit der Rückkehr des Ministerpräsidenten an die Spitze der Regierung. Ministerpräsident Ahmed Kureia sagte, dieses Ereignis werde zweifellos Auswirkungen auf die gesamte Region haben.