Die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf ermittelt in einem neuen möglichen Betrugsfall bei dem Statistikamt Eurostat in Luxemburg – und wird dabei unter Umständen auch die Rolle von EU-Reformkommissar Neil Kinnock untersuchen. »Wir ermitteln in Sachen Eurogramme, sagte Olaf-Chef Franz-Hermann Brüner zu stern.de. Das Online-Magazin des stern hatte vergangenen Mittwoch exklusiv berichtet, dass das Beratungsunternehmen Eurogramme unter dem Verdacht steht, sich Aufträge bei Eurostat und anderen Kommissionsdienststellen mit gefälschten Angaben verschafft und überhöhte Zahlungen erhalten zu haben.
Brüners Ermittler wollen nun auch der Frage nachgehen, ob Unregelmäßigkeiten im Haus von Reformkommissar Neil Kinnock geschehen sind. Der Brite hatte die Beschwerde einer dänischen Eurostat-Beamtin erhalten, die vergebens versucht hatte, die Überzahlungen an Eurogramme zu verhindern. Sie fühlte sich darauf von ihrem Vorgesetzten gemobbt. Kinnock wies jedoch ihre Beschwerde am 25. Januar 2002 als unbegründet zurück. Sein Schreiben enthält allerdings eindeutige Falschbehauptungen und setzt den Kommissar und seine Verwaltung darum dem Manipulationsverdacht aus. »Auch dieser Aspekt wird zu prüfen sein«, sagen die Olaf-Oberen. »Wenn es erforderlich ist«, müsse man auch Kinnocks persönliche Rolle unter die Lupe nehmen. Allerdings habe der Brite wohl die genauen Umstände nicht gekannt, als er den auf französisch abgefassten Brief unterzeichnete.
Zugleich müssen die Betrugsbekämpfer eine neue peinliche Ermittlungspanne einräumen. Sie waren bereits seit dem Jahr 2000 über die Vorwürfe informiert, unterbrachen die Recherchen aber offenbar monatelang, um das Ergebnis anderer Kontrollberichte abzuwarten. »Das ist nicht mit der Intensität behandelt worden, mit der man es hätte behandeln müssen«, räumen die Olaf-Leute heute ein. Wie stern.de bereits vergangene Woche geschrieben hatte, liegen den Ermittlern schon seit 1998 weitere detaillierte Hinweise über dubiose Vergabepraktiken bei Eurostat vor – doch bis vor kurzem gingen Brüners Leute ihnen nicht ernsthaft genug nach. Obwohl »schwere Betrugsvorwürfe« vorlagen, hätten die Ermittler die Informationen bisher »nicht angemessen behandelt«, ja sogar nicht einmal »ordentlich abgeheftet«, klagten Olaf-Juristen im Januar in einem internen Papier.
Die Tatsache, dass die Betrugsbekämpfer bis vor kurzem ihren Job nicht richtig gemacht haben, kann Eurostat-Generaldirektor Yves Franchet jetzt zu seiner Entlastung benutzen. In einem an die 750 Eurostat-Beschäftigten gerichteten internen Brief versuchte er gestern, die »wiederholten Anschuldigungen« zurückzuweisen, die zunächst stern.de und dann auch andere Medien in laut Franchet, »reißerischen Artikeln« aufgegriffen hatten. Er habe Informationen über potenzielle »Unregelmäßigkeiten« in der Kommissionsbehörde aus eigener Initiative an die Betrugskämpfer bei Olaf weitergeleitet, verteidigt sich der französische Beamte in der Erklärung, die stern.de vorliegt. Es gebe daher bisher »keinen Anhaltspunkt«, der es »erlaubt, die Anschuldigungen entweder zu bestätigen oder zu entkräften«.
Franchet geht jedoch nicht auf die Vorwürfe im Einzelnen ein und beantwortet auch nicht die Frage, warum Eurostat weitere Aufträge an Eurogramme gab, nachdem der Behördenleitung der Fälschungsverdacht bekannt war. Interne Prüfer hatten im Dezember 2000 darauf hingewiesen, dass man nun die rechtliche Möglichkeit habe, die Firma von weiteren Aufträgen auszuschließen. Dies hätte besser zu der Linie von »null Toleranz bei Betrug und Fehlverhalten« gepasst, die Kinnock und Kommissionspräsident Romano Prodi bei Amtsbeginn ausgegeben hatten.
Unabhängig davon hat jetzt der für Wirtschaft und Finanzen zuständige Kommissar Pedro Solbes stern.de-Informationen bestätigen lassen, dass sich in eine wichtige Statistik von Eurostat ein gravierender Irrtum eingeschlichen hat. »Es stimmt, dass es einen Fehler gab«, sagte ein Solbes-Sprecher zu stern.de. Dieser müsse nun beseitigt werden. Es handelt sich um das französische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, das seit 1998 wegen falscher Zahlen eines Zulieferers systematisch unterschätzt wird. Aus unbekannten Gründen sei der Fehler seinerzeit »weder den französischen Behörden noch Eurostat aufgefallen«, sagte der Sprecher. Nach Berechnungen des Pariser Wirtschaftsinstitut OFCE, das den Fehler entdeckt hatte, rutschte Frankreich dadurch vom siebten auf den zwölften Platz in der Wohlstandskala. Deutschland könnte nach Heyers Ansicht bei einer Korrektur dieser Wohlstandstabelle von Frankreich überholt werden.
HANS-MARTIN TILLACK