China Magisch und monströs

Von Adrian Geiges
Es ist ein Land der Extreme. Nirgendwo gibt es mehr Millionenstädte. Nirgendwo wächst die Zahl der Autos so rasant. Und in keinem anderen Land der Welt werden so viele Menschen hingerichtet. Die uralte Kulturnation im Fernen Osten hat die Europäer seit Jahrhunderten fasziniert. Gleichzeitig ist uns das Land immer fremd geblieben: eine unheimliche Weltmacht, die modernste Stadien baut und jeden niederknüppelt, der die große Olympia-Show stören könnte.

Schon immer hat China die Deutschen ebenso fasziniert wie verschreckt. Schwärmte der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz 1697 davon, "wie sinnreich bei den Chinesen" alles "auf den öffentlichen Frieden hin" ausgerichtet sei, warnte sein Kollege Johann Gottfried Herder 80 Jahre später vor den Chinesen als einem "abergläubigen Pöbel, ... (dessen) Sittenlehre den freien Fortgang des Geists auf immer hemmt".

Und wohl niemand hat über lange Zeit das Bild der Deutschen vom Reich der Mitte so sehr geprägt wie Kaiser Wilhelm II., als er die "Gelbe Gefahr" beschwor und 1900 in seiner berühmten "Hunnenrede" angesichts der Ermordung des deutschen Gesandten von Ketteler über die Herrscher in Peking sagte: "Die Chinesen haben das Völkerrecht umgeworfen, den Pflichten des Gastrechts Hohn gesprochen. Das ist umso empörender, als dies Verbrechen begangen worden ist von einer Nation, die auf ihre uralte Kultur stolz ist."

Tatsächlich scheint keine Kultur so geeignet wie die chinesische, um bei ihrer Betrachtung zwischen Anbetung und Abscheu zu schwanken: am anderen Ende der Welt gelegen, fremd, grandios in ihren Erfindungen, grausam im Umgang mit Freund wie Feind. Selbst Mao Zedong, dem Gründer der Volksrepublik China, erschien sein Volk als "großes weißes Blatt Papier", das man nach Gutdünken "mit den schönsten Schriftzeichen vollmalen" könne. Und angesichts der jüngsten Bilder aus Tibet fragen sich Fernsehzuschauer wie Zeitungsleser wieder einmal, ob das Land im Fernen Osten vor allem eine Art Viagra der Weltwirtschaft ist oder doch eher der Welt größter Meuchler jeglicher Menschenrechte.

Land der Superlative

China war von jeher ein Land der Superlative. Im Jahr 1820 erwirtschaftete das Reich der Mitte ein Drittel des Weltbruttosozialprodukts. Schon 700 Jahre vor Gutenberg druckten die Chinesen Bücher. 1300 Jahre vor den Europäern stellten sie Stahl her. Sie erfanden das Papier, das Porzellan, den Magnetkompass und das Schwarzpulver. Sie wuschen sich mit Seife und heißem Wasser, als die Barbaren im Westen noch lange vor sich hin stanken.

Im Geschichtsunterricht hören wir von Griechen und Römern, von Franzosen und Engländern, von den Chinesen dagegen so gut wie nichts. Das sagt viel aus über unsere Ignoranz. Im Jahr 1275, als Marco Polo in Peking eintraf, lebten dort immerhin 1,2 Millionen Menschen, während es in seiner Heimat Venedig, zu jener Zeit die zweitgrößte Stadt Europas, gerade mal 100.000 waren. Und glaubt man Marco Polo, so staunte er damals nicht nur über die 100.000 Pferde, die Fürsten dem Kaiser zum Geburtstag schenkten, sondern auch über 25 000 Huren, die außerhalb des Palastes ihre Dienste anboten. Das alte China war weltoffen. Schon im 7. Jahrhundert gaben die Kaiser in der damaligen Hauptstadt Chang'an buddhistischen Mönchen Bauplätze für ihre Tempel, wanderten Händler, Pilger, Religionen und Ideen auf der Seidenstraße zwischen Ost und West.

Tatsächlich ist Chinas Aufstieg zu Beginn des 21. Jahrhunderts für den, der sich mit dem Land und seiner Geschichte auskennt, nicht überraschend. Bemerkenswert ist er trotzdem. Innerhalb von zwölf Jahren hat die Volksrepublik ihr Bruttoinlandsprodukt verdoppelt - die USA brauchten dazu 40 Jahre. Das Land produziert inzwischen mehr als die Hälfte aller auf der Welt verkauften Kameras und ein Viertel aller Kühlschränke. Schon jetzt verbraucht es mehr Aluminium, Kohle und Weizen als jeder andere Staat. 460 Millionen Mobiltelefone sind im Gebrauch - mehr als sonstwo auf der Erde. Und mit Zuwachsraten von fast 20 Prozent ist es nur eine Frage der Zeit, wann auf dem zweitgrößten Automarkt der Welt die meisten Fahrzeuge abgesetzt werden. Denn obwohl zurzeit nur etwa vier Prozent der Chinesen genug Geld verdienen, um sich überhaupt ein Auto leisten zu können, werden es in zwei Jahren schätzungsweise 13 Prozent sein - das sind 170 Millionen potenzielle Käufer. Wissenschaftler sehen China 2040 als Wirtschaftsmacht Nummer eins auf diesem Planeten. "China ist das größte Comeback der Geschichte", sagt Jörg Wuttke, Chefrepräsentant der BASF in Peking und Präsident der Europäischen Handelskammer.

Wieder Weltmacht

Am 8. August startet die große Coming-out-Party, dann beginnen die Olympischen Sommerspiele. Für die Pekinger Führung ist der Sport dabei nur das Begleitprogramm. Auf der Hauptbühne wird geboten: China ist wieder Weltmacht.

Auf das, was alle dann bewundern sollen, werden die Bewohner des Landes schon seit Jahren vorbereitet - von der Grundschule bis zur abendlichen Fernsehshow. Immer und überall lernen die Chinesen: In den vergangenen Jahrhunderten haben ausländische Mächte uns gedemütigt. Die Briten betäubten uns mit Opium und begannen 1840 einen Krieg. Die Japaner ermordeten 1937 in der damaligen Hauptstadt Nanjing 300.000 Männer, Frauen und Kinder. Das darf nie wieder passieren.

Und so besinnt sich das Land nun auf all die Helden aus früheren Zeiten. Auf den ersten Kaiser, der sich noch im Tod von Tausenden Kriegern aus Terrakotta bewachen ließ. Auf den Herrscher Xuanzong, der schon Mitte des 8. Jahrhunderts in einer prachtvollen Hauptstadt mit einer Million Einwohner residierte, wo sich die Elite mit Polo und einer Art Fußball vergnügte. Oder auch auf den Eunuchen Zheng He (1371-1434), den Admiral des Kaisers. Verglichen mit ihm war Kolumbus ein Hobbysegler. Zheng He befehligte zeitweilig 27 870 Seeleute auf 317 Schiffen, unternahm sieben Expeditionen nach Südostasien, Indien, Afrika und Arabien. Astronomen und Meteorologen begleiteten ihn. Kolumbus hingegen hatte gerade mal 90 Mann auf seinen drei Nussschalen.

Halbherzige Öffnung

Glaubt man der Propaganda, hat Chinas letzter Aufbruch aus der selbst gewählten Isolation vor 30 Jahren begonnen. Damals setzte Deng Xiaoping, der kleine mächtige Mann nach Mao, seine Politik der Reform und Öffnung in Gang. Doch diese Öffnung ist in Wahrheit bis heute halbherzig geblieben. Denn die Pekinger Führer wollen zwar moderne Technologie, aber keine moderne Gesellschaft.

Bereits 1215 unterschrieb König Johann von England die Magna Carta, wonach niemand ohne Gerichtsurteil ins Gefängnis gesperrt werden darf. In China gilt 800 Jahre später solches Recht immer noch nicht. Die Französische Revolution erkämpfte 1789 gleiches Stimmrecht für die Menschen aller Stände. In China stellt sich die Frage nach gleichem oder ungleichem Stimmrecht bis heute nicht - es gibt gar keine allgemeinen Wahlen, nicht einmal gefälschte Schein-Urnengänge wie in der DDR oder der Sowjetunion. Eine zentralistische Kaderpartei führt die Volksrepublik, die Funktionäre werden de facto von oben ernannt, wie die Mandarine, die hohen Beamten zu Kaisers Zeiten. Chinas Führer geben vor, für das chinesische Volk zu sprechen - doch sie sind durch nichts legitimiert. Entsprechend Maos Losung "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen" schossen sie sich 1949 an die Macht.

Mao Zedong hatte China nach Jahrzehnten der Wirren und des Bürgerkriegs geeint und war mit Härte gegen feudale Traditionen und Privilegien vorgegangen. Doch ausgerechnet das turbokapitalistische Hongkong, bis 1997 Kolonie der verhassten, ist heute Vorbild für das ganze Reich. Als die Kommunisten 1949 siegten, ekelte sich die aus Shanghai fliehende High Society vor der Stadt - da gebe es nicht einmal anständige Restaurants und Geschäfte. Heute ist Hongkong das Shopping-Paradies für die armen Verwandten vom Festland.

Partei predigt Nationalismus

Da die Kommunisten die marxistische Ideologie inzwischen aufgegeben haben, predigt die Partei stattdessen den Nationalismus. Sie gibt sich als Vollstreckerin der Geschichte, die das Reich der Mitte zu alter Größe führt. Vor Maos Revolution sagten chinesische Historiker, das Land sei 3000 Jahre alt. Das klang seinen Nachfolgern nicht gigantisch genug. In den 90er Jahren beschloss eine Regierungskommission "Chinas 5000-jährige Geschichte", eine Behauptung, die seither ständig wiederholt wird. Belege dafür gibt es keine.

Regelmäßig strahlt das chinesische Fernsehen Videoclips aus, in denen Bilder von Mao Zedong, Deng Xiaoping, Jiang Zemin und dem jetzigen Staats- und Parteichef Hu Jintao hintereinander geschnitten sind. Das soll den Eindruck erwecken, diese Führer stünden in einer Tradition. Doch Mao schaffte das Privateigentum ab und zwang Millionen Bauern in Volkskommunen, während seine Nachfolger das Land kapitalistischer machten als Deutschland. Fast die Hälfte der Parteivorsitzenden nach 1949 wird in der Ahnenfolge unterschlagen: darunter Zhao Ziyang, der 1989 Verständnis zeigte für die protestierenden Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Sie alle haben in der offiziellen Geschichtsschreibung nichts mehr zu suchen. Noch heute darf man nicht über das Massaker von Tianamen reden. Und über Maos "Großen Sprung nach vorn", eine desaströse Reform von Landwirtschaft und Industrie, bei der zwischen 1948 und 1962 weit mehr als 20 Millionen Menschen starben, sind erst seit Kurzem kritische Bemerkungen möglich.

Die "Große Proletarische Kulturrevolution" von 1966 bis 1976 wird in den Medien kaum erwähnt, denn viele der Mörder von damals sind heute politische Führer oder erfolgreiche Geschäftsleute. Und ebenso tabu ist, woran die Unruhen in Tibet die Welt einmal mehr erinnern: China ist kein einheitliches Gebilde, sondern ein Vielvölkerstaat aus 56 Nationalitäten. Zwar wird die Vielfalt in populären Schlagern besungen, und im Fernsehen treten Ethnien in ihren traditionellen Trachten auf. Aber immer wird verschwiegen, dass es zwischen den Han-Chinesen, die 90 Prozent der Bevölkerung stellen und das Land regieren, und den diversen Minderheiten irgendwelche Konflikte gibt.

Lügen und Repression

Bis heute wird das Wissen von oben kanalisiert, der Einzelne ist dem Staat und seinen Behörden oft ausgeliefert. Zugleich wächst der Gegensatz von Stadt und Land, von Arm und Reich und damit das Konfliktpotenzial im Riesenreich. Mit Lügen und Repression aber lässt sich keine moderne Gesellschaft aufbauen. Das World Wide Web illustriert das Dilemma.

Vor drei Wochen überholte China die USA als Internetnation Nummer eins. Mit 220 Millionen Nutzern steht es jetzt an der Weltspitze. Die Volksrepublik braucht das Netz, um wirtschaftlich voranzukommen. Gleichzeitig aber hat Peking die Zensur verschärft. Blogschreiber müssen nach einer neuen Regelung ihre Identität preisgeben. Schon jetzt sitzen mehr als 50 von ihnen wegen kritischer Äußerungen hinter Gittern. Seit dem 31. Januar dürfen Videos nur noch von staatlich kontrollierten Unternehmen ins Netz gestellt werden.

Nicht reif für Freiheit und Demokratie

Nicht wenige China-Experten in Europa wie den USA behaupten, das Land und seine Menschen seien noch nicht reif für Freiheit und Demokratie. Die einen sagen das, weil sie mehr an den Möglichkeiten des Marktes als an einer Umverteilung der Macht interessiert sind. Die anderen aus einer Art Neorassismus. Dabei erlebte China bereits 1911 eine demokratische Revolution unter Führung von Sun Yat-sen. Er sah China durch die Herrschaft der Qing-Dynastie gefesselt und wollte eine vom Volk gewählte Regierung statt des Kaisers Pu Yi, der am Ende seiner Regentschaft sechs Jahre alt war.

Heute sind es die kommunistischen Kader, die Chinas Entwicklung hemmen. Statt den Wohlstand der von ihnen beschworenen Massen zu fördern, bereichern sie sich selbst, kassieren wie eine Mafia beim Boom ab, ohne etwas dafür zu leisten. Dabei hat China dank seiner engagierten und geschäftstüchtigen Menschen das Potenzial, eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Macht zu werden, die weltweit bewundert wird. Vorher müsste allerdings die Partei abdanken - wie 1912 der letzte Kaiser.

Mitarbeit: Ellen Deng

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