Im Umgang mit Menschenrechtsverletzungen in China plädieren deutsche Politiker und Diplomaten immer gerne für "stille Diplomatie". Ein diskretes Vorgehen helfe mehr, als China an den Pranger zu stellen, heißt es auch wieder vor dem Besuch von Kanzlerin Angela Merkel am Donnerstag in Peking. Doch Menschenrechtsexperten widersprechen heftig: "Die Notwendigkeit einer stärkeren öffentlichen Diplomatie im Falle Chinas ergibt sich schon aus dem einfachen Grund, dass stille Diplomatie zu nichts geführt hat", sagt der Forscher der Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch, Nicolas Bequelin.
Der laute internationale Aufschrei über die Inhaftierung von Ai Weiwei im vergangenen Frühjahr, der zur Freilassung des berühmten Künstlers geführt habe, beweise, "dass öffentlicher Druck funktioniert", sagt Bequelin. "Chinesische Aktivisten selbst sind einstimmig der Überzeugung, dass öffentlicher Druck notwendig und wirksam ist." Die Kritik an Menschenrechtsverstößen öffentlich zu machen, erhöhe die Kosten, die ein Regime für die Verfolgung von Andersdenkenden zahle. "Keine Regierung will ein Menschenrechts-Paria sein", sagt Bequelin. "Schweigen hilft nur den Unterdrückern."
Ähnlich argumentiert Mark Shan von der Menschenrechtsgruppe ChinaAid: "Stille Diplomatie funktioniert nicht mit chinesischer Politik - aber anprangern ist schlagkräftig, weil die Bloßstellung in der asiatischen Kultur eine größere Rolle spielt." Hinter dem Hinweis auf "stille Diplomatie" werde häufig auch nur Nichtstun versteckt, beklagt Shan "ein feiges und kurzsichtiges Kopf-in-den-Sand-stecken". Während die freie Welt über die Jahre immer leiser aufgetreten sei, habe sich Chinas Menschenrechtslage nur weiter verschlechtert. "Stille Diplomatie hat überhaupt nicht funktioniert."
Kanzlerin muss konkrete Fälle ansprechen
Auch der chinesische Bürgerrechtler Li Jinping, der nach neun Monaten Haft und Misshandlung in der Psychiatrie im Juli wieder auf freien Fuß kam, ist überzeugt, dass ihn erst die Presseberichte über seine Tortur gerettet haben. Die Kanzlerin müsse in Peking konkrete Bürgerrechtsfälle ansprechen. "Ich denke, es ist gut für uns", sagt Li Jinping. "Es muss öffentlich darüber gesprochen werden." Sonst spüre die chinesische Führung nicht, dass es ernst sei.
Leise Töne hätten auch dem blinden Bürgerrechtler Chen Guangcheng nicht geholfen, sagt Wang Songlian von Chinese Human Rights Defenders (CHRD). Seit Jahren hätten sich ausländische Regierungen diskret für ihn eingesetzt. Auch hätten Chen Guangcheng und seine Frau zunächst selber gehofft, nach seiner Haftentlassung 2010 wieder ein normales Leben führen zu können, wenn sie sich nur ruhig verhielten. Doch wurde die Familie in ihrem Haus gefangen gehalten. Erst nach massivem öffentlichen Druck chinesischer Bürgerrechtler und aus dem Ausland wurde der Tochter jüngst erlaubt, zur Schule zu gehen.
Solche Fälle delegieren Regierungen auch gerne an die laufenden Menschenrechtsdialoge mit China. "Aber gibt es irgendwelche konkreten Ergebnisse des Menschenrechtsdialogs mit China, den die USA, die Europäische Union und verschiedene europäische Regierungen seit Jahren führen?", fragt die CHRD-Forscherin Wang. Wer für "stille Diplomatie" eintrete, müsse auch ihre Wirksamkeit nachweisen.
Stille und laute Diplomatie schließen sich nicht aus
Der langjährige Vermittler in Menschenrechtsfällen, John Kamm von der Dui Hua-Stiftung in den USA, findet gleichwohl, dass sich stille und laute Diplomatie "nicht gegenseitig ausschließen": "Manchmal ist nur der eine Ansatz zu bevorzugen, zu anderen Zeiten sollten beide Methoden eingesetzt werden." Öffentliche Kritik verstärke aber den Druck und damit den Anreiz für Peking, sich zu bewegen.
"Außenpolitik hat immer beide Taktiken verfolgt", sagt auch Menschenrechtsforscher Bequelin. "Aber Menschenrechte nicht zu betonen, wenn sich die Lage spürbar verschlechtert hat, ist ein Fehler, weil es die Hardliner in der Kommunistischen Partei stärkt." Und daran könne auch die Kanzlerin kein Interesse haben.