Seinen Anhängern mag Elon Musk als digitaler Visionär gelten, in Brasilien aber firmiert der milliardenschwere Unternehmer seit diesem Wochenende als digitaler Milizionär. Und zwar in Ermittlungsunterlagen des Obersten Gerichts. Die höchste Kammer des Landes geht schon länger gegen sogenannte "digitale Milizen“ vor, die mit Desinformation und Hasstiraden das Netz unsicher machen. Nun hat der verantwortliche Richter ausgerechnet Musk, den Besitzer von Twitter-Nachfolger X, in seinen Untersuchungskomplex miteingeschlossen.
Brasilien ermittelt gegen den reichsten Menschen der Welt. Und der wiederum holt zum verbalen Gegenschlag gegen den bekanntesten Juristen des Landes aus. Das alles ist kein verspäteter Aprilscherz. Was also ist passiert?
Auch im größten Staat Südamerikas war X nach der Musk-Übernahme zu einem Hort der Hassrede mutiert. Der rechtspopulistische Ex-Präsident Jair Bolsonaro – vor gut anderthalb Jahren abgewählt – hatte dort Schmierenkampagnen gegen seine politischen Gegner orchestriert und Zweifel am brasilianischen Wahlsystem gestreut. Das wiederum rief einen kahlköpfigen, ernst dreinblickenden Mann namens Alexandre de Moraes auf den Plan, einer von elf Richtern am Obersten Gerichtshof, doch eigentlich gilt er in Brasilien vielmehr als der Sheriff des Internets.
Elon Musk x-te sich in Rage
De Moraes war vor einigen Jahren beauftragt worden, gegen Desinformation und Demokratiefeindlichkeit in sozialen Netzwerken vorzugehen. Immer wieder ließ er Einträge löschen und Konten sperren. Nun traf es auch beliebte X-Accounts aus der Bolsonaro-Blase. Wie das Unternehmen am Samstag mitteilte, musste es nach Gerichtsbeschluss mehrere Profile aus Brasilien sperren. Betroffen sind unter anderem ein ultrakonservativer Blogger, ein Geschäftsmann, der mit einer Warenhauskette Milliarden machte, und zwei ehemalige Kongressabgeordnete.
Netzwerkchef Musk x-te sich daraufhin in Rage. De Moraes warf er vor, "schamlos und wiederholt die Verfassung und das brasilianische Volk verraten" zu haben. Zurücktreten solle er, oder abgesetzt werden. In einem anderen Post nannte er den Richter "Brasiliens Darth Vader“, nach dem Bösewicht der bekannten Star-Wars-Reihe.
Musk kündigte an, de Moraes‘ Anordnung nicht Folge leisten und die betroffenen Konten wieder freischalten zu wollen. Der wiederum leitete daraufhin Ermittlungen gegen den Unternehmer ein wegen Behinderung der Justiz und Anstiftung zu Straftaten. Für jeden Tag und jedes Konto, das entgegen der Entscheidung des Gerichts entblockt würde, drohte er mit einer Geldstrafe von umgerechnet 20.000 US-Dollar.
Elon Musks brasilianischer Gegenspieler ist nicht unumstritten
Wie sehr darf der Kampf gegen Desinformation die Grenzen der Meinungsfreiheit verschieben? Es ist eine globale Diskussion, die da gerade stellvertretend von zwei Alphamännern verhandelt wird. Auf der einen Seite Musk, der wahnhaft wie ein Sektenführer die Freiheit der Rede verteidigt – und sei die Rede noch so hasserfüllt, volksverhetzend oder holocaustverharmlosend. Auf der anderen Seite de Moraes, der sich als Richter in Brasilien zum personifizierten Gesetzeskaiser hochgeurteilt hat.
In seiner Heimat gilt er als einer der fähigsten Juristen, und doch nicht als unumstritten. Schon als de Moraes 2017, damals noch Justizminister, an den Obersten Gerichtshof berufen wurde, raunten viele. Lange war er – katholisch-fromm, Vater dreier Kinder – Mitglied in der eher minderprogressiven sozialdemokratischen Partei Brasiliens gewesen. Als Sicherheitschef des Bundesstaats São Paulo hatte er linke Demos mit gepanzerten Wagen niederschlagen lassen, soll Polizeigewalt vertuscht haben. Als Richter aber stieg de Moraes zum ultimativen Gegenspieler des habituellen Corona-Leugners und Populisten Bolsonaro auf, kippte eine umstrittene präsidentielle Entscheidung nach der anderen.

De Moraes interpretiert seine richterliche Macht sehr weit. Schon Anfang 2023 schrieb die New York Times über ihn: "[Er] sperrt einseitig Dutzende von Konten und Tausende von Beiträgen in den sozialen Medien, ohne jegliche Transparenz oder die Möglichkeit Rechtsmittel einzulegen.“ Schon damals kommentierte Elon Musk auf X: "Das ist sehr besorgniserregend.“ Es ist also nicht das erste Mal, dass die beiden aufeinandertreffen.
Nun aber könnte der Streit massive Folgen haben. Als der russische Kurznachrichtendienst Telegram einer richterlichen Anordnung nicht nachkam, konsequenter gegen Fakenews vorzugehen, ließ de Moraes die Plattform in Brasilien sperren. Das Verbot hatte nur zwei Tage Bestand, weil das Unternehmen letztlich nachgab. Damals aber hatte der Richter es mit dem jovialen Telegram-Chef Pawel Durow zu tun, nicht mit Elon Musk. Der nämlich geht weiter auf Konfrontationskurs – und scheint in Kauf nehmen zu wollen, dass X in Brasilien bald komplett abgeschaltet werden könnte: Zumindest empfiehlt er seinen brasilianischen Nutzern bereits, sich einen VPN-Client zu holen. Mit einer solchen Software lässt sich die Herkunft eines Internetnutzers verschleiern, um länderspezifische Seitensperrungen zu umgehen. Elon Musk, der digitale Milizionär, wählt die Guerilla-Taktik.