England Die Angst vor dem Absturz

Billigmahlzeit statt Bio-Essen: In London kommt die Wirtschaftskrise in der Mittelschicht an.

Die Wirtschaftskrise kann man sehen auf der Einkaufsstraße The Broadway im Nord-Londoner Stadtteil Crouch End. Das Ladenlokal des kleinen Spielzeuggeschäftes "Wordplay" steht seit Monaten leer, die Eigner hatten den langjährigen Mietern Anfang 2008 gekündigt, wohl in der Hoffnung, einen besser bezahlenden Nachfolger zu finden. Schräg gegenüber liegt die Verkaufsfläche von Woolworths verlassen und leer, die Fenster wurden bereits mit Plakaten überklebt und mit Graffiti beschmiert. Die Pleite des Kaufhauses hat gleich den Möbelladen um die Ecke mit ins Verderben gerissen.

Die kleine Einkaufsstraße, keinen Kilometer lang, verliert ihre Geschäfte wie ein schlechtes Gebiss seine Kronen. Und die britische Mittelklasse bekommt es mit der Angst zu tun. Denn hier, in der Zone Drei der Londoner U-Bahn-Karte, in einem Stadtteil, in dem es noch ordentliche staatliche Schulen gibt und genug Cafés und Pilates-Studios, wohnen Times-Kolumnisten und BBC-Reporter, Lehrer und IT-Berater, Verlagsmanager und Ärzte. Es ist das Middle-England, das Tony Blair mit seinem New Labour umworben hat und auf das auch Premierminister Gordon Brown setzt.

Verzweifelte Maßnahmen gegen die Krise

In Crouch End kennt jeder inzwischen jemanden, der direkt betroffen ist von der Krise - der Nachbar, vorher umworbener IT-Spezialist, findet seit Monaten keinen neuen Job mehr. Die Freunde können ihr Haus nicht verkaufen, der Arbeitskollege sucht vergeblich eine Bank, die ihm zu vernünftigen Konditionen eine Hypothek vermittelt. Der lokale Supermarkt, bisher bekannt für die große Auswahl von Bio-Lebensmitteln kleiner Hersteller, räumt Billig-Produkte aus Massenproduktion in die Regale. Die Restaurants bieten Credit-Crunch-Munch, das Finanzkrisen-Essen, für fünf Pfund am Mittag. Die Einzelhändler-Gemeinschaft verteilt Bonuskarten für loyale Kunden. Es sind alles etwas verzweifelt wirkende Versuche, sich der großen Krise entgegen zu stemmen.

Sicherheitsbehörden befürchten einen "Sommer der Wut"

Es hilft nicht, dass die Polizei in den vergangenen Wochen Flugblätter durch die Briefkästen geworfen hat, auf denen sie Anwohner warnt, ihre Haustüren nachts von innen zu verriegeln - die Zahl der Einbrüche habe sich stark erhöht. Die Diebe ziehen die Türriegel durch die Briefkästen auf und schleichen sich an Schlafenden vorbei zu Flachbildschirmen und Schmuck. Zeitungen vermelden, dass sich Scotland Yard auf einen "Sommer der Wut" vorbereitet. Demonstrationen könnten gewalttätig werden, heißt es da. In diesem Frühling jähren sich die großen Streiks der 80er Jahre zum 25. Mal. In der Ära der Premierministerin Margaret Thatcher waren damals Berg-Arbeiter im Norden Englands auf die Straße gegangen und hatten um das Überleben ihrer Minen gekämpft, mit Steinen, Fäusten und, völlig verzweifelt, auch mit Molotow-Cocktails. Die schwarz-weißen Nachrichtenbilder der Straßenkämpfe zwischen Streikenden und berittener Polizei flimmern momentan über Fernsehbildschirme und durch Ausstellungen in London. Und sie rufen vielen auch wieder ins Gedächtnis: Bis heute haben sich die Städte im Norden von den Nachwirkungen dieses wirtschaftlichen Kahlschlags nicht wirklich erholt.