Tödlicher Schuss auf Jugendlichen Gewalt in Frankreich weitet sich auf Belgien aus – Polizist wegen "vorsätzlicher Tötung" in U-Haft

Nach tödlichen Polizeischüssen: Krawalle in Frankreich weiten sich in der dritten Nacht weiter aus
Sehen Sie im Video: Nach tödlichen Polizeischüssen – Krawalle in Frankreich weiten sich in der dritten Nacht weiter aus.




Frankreich kommt nicht zur Ruhe. In mehreren Städten ist es in der Nacht erneut zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und Demonstranten gekommen. Bilder der Verwüstung in Nanterre, einem Vorort von Paris. Aber die Beamten seien auch mit neuen Vorfällen unter anderem in Marseille, Lyon, Toulouse und Lille konfrontiert worden, teilte die nationale Polizei am Donnerstagabend mit. Es war die dritte Krawall-Nacht in Folge. Landesweit waren 40.000 Polizisten im Einsatz, rund viermal so viele wie noch am Mittwochabend. In der Region Paris fahren seit Donnerstagabend keine Busse und Straßenbahnen mehr, im 8 Kilometer vom Pariser Stadtzentrum entfernten Clamart gilt eine nächtliche Ausgangssperre bis Montag. Auslöser der Ausschreitungen waren tödliche Schüsse eines Polizisten auf einen Jugendlichen nordafrikanischer Abstammung am Dienstag bei einer Verkehrskontrolle in dem Pariser Arbeitervorort Nanterre. Die Staatsanwaltschaft hat ein Verfahren gegen den Polizisten wegen des Verdachts des Totschlags eingeleitet.
Die Gewaltexzesse nach dem tödlichen Schuss auf einen Jugendlichen in Frankreich weiten sich aus. Die Mutter des Getöteten äußert ihre Trauer. Und der Anwalt des mutmaßlichen Schützen will Berufung einlegen.

Frankreich hat eine dritte Nacht gewaltsamer Proteste erlebt. Trotz massiven Polizeiaufgebots wurden in der Nacht zum Freitag erneut Autos angezündet, Gebäude verwüstet und Geschäfte geplündert. Landesweit wurden mehr als 400 Menschen festgenommen, wie aus dem Umfeld des Innenministeriums verlautete. Nach dem Tod des 17-jährigen Nahel M. bei einer Polizeikontrolle wurde der mutmaßliche Schütze der "vorsätzlichen Tötung beschuldigt" und in Untersuchungshaft genommen.

Ausgangssperren in Vororten von Paris

Bis etwa 03.00 Uhr am Freitag wurden landesweit mindestens 421 Menschen festgenommen, wie es aus dem Umfeld von Innenminister Gérald Darmanin hieß. Die meisten von ihnen seien 14 bis 18 Jahre alt. In einer Mitteilung der Geheimdienste hatte es nach Angaben aus Polizeikreisen geheißen, die Gewalt könne sich im Laufe der "nächsten Nächte ausweiten" und durch "gezielte Aktionen gegen Sicherheitskräfte und Symbole des Staates" gekennzeichnet sein.

Im südfranzösischen Pau wurde nach Angaben der Präfektur ein Molotow-Cocktail auf eine Polizeiwache geschleudert. In Paris wurden in den "Halles" und auf der Rue de Rivoli, die zum Louvre führt, mehrere Geschäfte "verwüstet", "geplündert oder in Brand gesteckt", wie ein ranghoher Polizeivertreter sagte. Im nordfranzösischen Lille wurde das Rathaus eines Arbeiterviertels angezündet, ein Rathaus im Osten der Stadt wurde mit Steinen beworfen. In Marseille wurde eine Bücherei verwüstet, wie örtliche Behördenvertreter mitteilten.

Aufgrund weiterer erwarteter Proteste fuhren im Großraum Paris ab Donnerstagabend ab 21.00 Uhr keine Busse und Straßenbahnen mehr. Mindestens drei Städte am Rande von Paris hatten eine Ausgangssperre verhängt, darunter Clamart und Compiègne.

30 Festnahmen bei gewaltsamen Protesten in Belgien

Auch in der belgischen Hauptstadt Brüssel kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und Ordnungskräften. Nach Angaben der belgischen Nachrichtenagentur Belga wurden etwa 30 Menschen festgenommen, ein Großteil davon waren Minderjährige. Jugendliche hätten sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Ordnungskräften geliefert und es habe mehrere Brände gegeben, erklärte die Polizei. Wie die Brüsseler Verkehrsgesellschaft auf Twitter mitteilte, wurde ein Teil des öffentlichen Personennahverkehrs eingestellt.

Ausschreitungen Paris
Gefährliches Feuerwerk in dem Pariser Vorort Nanterre: Polizisten räumen die Straße bei massiven Ausschreitungen
© Aurelien Morissard / AP / DPA

Belgische Medien zeigten Bilder eines brennenden Autos und von Polizisten in Kampfmontur. Laut Polizei hatten Jugendliche am Donnerstag in sozialen Netzwerken dazu aufgerufen, sich als Reaktion auf den Tod des 17-Jährigen in Frankreich zu versammeln. Spannungen gab es laut Belga vor allem rund um das zentral gelegene Stadtviertel Anneessens.

Frankreich protestiert gegen Polizeigewalt

Gegen den mutmaßlichen Schützen, der bei einer Verkehrskontrolle im Pariser Vorort Nanterre einen 17-Jährigen erschossen haben soll, wurde ein formelles Ermittlungsverfahren eingeleitet. Der Polizist sei der "vorsätzlichen Tötung beschuldigt" und in Untersuchungshaft genommen worden, teilte die Staatsanwaltschaft mit.

Der jugendliche Nahel M. war am Dienstag auf dem Fahrersitz eines Autos bei einer Verkehrskontrolle in Nanterre erschossen worden. Als der junge Mann plötzlich anfuhr, fiel der tödliche Schuss aus der Dienstwaffe des Polizisten. In einem Video war zu sehen, wie der Polizist mit seiner Waffe auf den Fahrer zielt und aus nächster Nähe schießt, als das Auto plötzlich beschleunigt. Bei der Kontrolle war zuvor der Satz zu hören: "Du kriegst eine Kugel in den Kopf."

Nachdem es deswegen bereits zwei Nächte in Folge in mehreren Städten massive Proteste gegen Polizeigewalt gegeben hatte, wurden für die Nacht zum Freitag landesweit rund 40.000 Polizisten und Gendarme mobilisiert, um die Ausschreitungen einzudämmen. Zudem wurden nach Angaben aus Polizeikreisen Eliteeinheiten der Polizei und der Gendarmerie nach Toulouse, Marseille, Lyon, Lille und Bordeaux geschickt.

Aus mehreren Städten, darunter Marseille, wurden gewaltsame Proteste und Sachschäden gemeldet. Es gebe "keine besonders gewaltsamen direkten Kontakte mit Sicherheitskräften, aber eine gewisse Zahl zerstörter Geschäfte, geplünderter Läden und Feuer", sagte ein ranghoher Polizeivertreter. Bis Mitternacht wurden nach Angaben aus dem Umfeld des Innenministers landesweit mindestens 176 Menschen festgenommen.

Aufgrund weiterer erwarteter Proteste sollte im Großraum Paris am Donnerstagabend ab 21.00 Uhr der Bus- und Straßenbahnverkehr "zum Schutz des Personals und der Fahrgäste" eingestellt werden, wie die Regionalpräsidentin von Île-de-France, Valérie Pécresse, im Kurzbotschaftendienst Twitter mitteilte. Bei den gewaltsamen Protesten am Mittwoch hatte es auch Angriffe auf mehrere Straßenbahnen und Busse gegeben.

Clamart, eine Stadt im Département Hauts-de-Seine östlich von Paris, verhängte angesichts der Proteste eine Ausgangssperre. Sie soll von Donnerstag bis Montagmorgen von jeweils 21.00 bis 06.00 Uhr gelten.

Mutter von Getötetem: "Ich gebe nicht der Polizei die Schuld"

In Nanterre fand am Donnerstag ein Trauermarsch zu Ehren des getöteten 17-Jährigen statt. Nach Angaben der Polizei nahmen rund 6200 Menschen teil. Sie hielten eine Schweigeminute ab. Im Anschluss gab es jedoch Ausschreitungen und Brände, die Polizei setzte Tränengas ein.

In ihrem ersten Medieninterview seit dem Tod ihres Sohnes sagte die Mutter Mounia, sie gehe von einer rassistisch motivierten Tat aus, mache aber nicht die Polizei als Ganzes dafür verantwortlich. "Ich gebe nicht der Polizei die Schuld, ich gebe einer Person die Schuld", sagte sie im Sender France 5. Sie habe Freunde, die Polizisten seien, und diese "finden es nicht gut, was er getan hat". Der Polizist habe "das Gesicht eines Arabers gesehen, einen kleinen Bengel, und wollte ihm das Leben nehmen", sagte sie. Sie hoffe, dass die Justiz "wirklich streng" sein werde. 

Nach Angaben seines Anwalts Laurent-Franck Liénard entschuldigte sich der Beamte im Polizeigewahrsam bei der Familie. "Die ersten Worte", die der Polizist gesagt habe, "waren, sich zu entschuldigen, und die letzten, die er gesagt hat, waren, sich bei der Familie zu entschuldigen", sagte der Anwalt im Fernsehsender BFMTV.

Sein Klient habe im Gewahrsam erstmals das Video gesehen und sei "extrem erschrocken von der Gewalt dieses Videos" gewesen. "Er ist am Boden zerstört. Er steht nicht morgens auf um Menschen zu töten. Er wollte nicht töten", fügte der Anwalt hinzu und kündigte an, am Freitag Widerspruch gegen die Untersuchungshaft einzulegen. 

Der Anwalt kündigte an, am Freitag Widerspruch gegen die Untersuchungshaft einzulegen.

AFP · DPA
Margaux Bergey / Sylvie Maligorne / cl

PRODUKTE & TIPPS

Kaufkosmos