Die EU kriegt den Nobelpreis? Klar, da lässt sich trefflich spotten, zumal über Twitter. Stecken die das Geld jetzt in den Griechen-Rettungsfonds? Sacken die Deutschen die Kohle ein? Bekommt die EU jetzt auch den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften? Hätten die Engländer nicht zum Ausgleich den Literatur-Nobelpreis verliehen bekommen müssen? Wer nimmt die Auszeichnung entgegen? Haha. Wunderbare Kalauer. Sehr treffend. Andere fassen sich mit gewichtigeren Kritikpunkten an den Kopf. Screbrenica, war da was? Hat die EU als Friedensbringer nicht wiederholt krass und fundamental versagt, ist ihre Außenpolitik nicht bis heute zahnlos?
Stimmt schon. Aber weder der Spott noch die mitunter berechtigte Kritik können verdecken: die Europäische Union - das aktuelle Kürzel für sechs Jahrzehnte europäischer Integration - als großes, wenn nicht das größte Friedensprojekt des 20. Jahrhunderts, hat diesen Preis verdient. Denn die europäische Integration hat es nicht nur vermocht, nach dem zweiten Weltkrieg die Erzfeinde Deutschland und Frankreich in Frieden zusammenzuketten und nach und nach ein demokratisches Bollwerk gegenüber der Sowjetunion zu errichten. Sie hat es vor allem vermocht, einen Mindeststandard für demokratische und marktwirtschaftliche Regeln festzulegen, der zum Exportschlager geworden ist. Immer mehr Länder wollten, in verschiedenen Erweiterungsrunden, Mitglieder werden.
Ob der Köder einzig das Versprechen des Wachstums war, das ist in der Nachbetrachtung egal. Entscheidend war, dass sich auch die neuen Mitglieder den neuen Regeln Europas unterwerfen mussten. Das galt im Fall Griechenland, in den Fällen des Post-Franco-Spaniens, im Fall Portugals. Europa, und das war tatsächliche eine grandiose Leistung von Männern wie den Franzosen Jean Monnet und Robert Schumann, von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, Francois Mitterand und Helmut Kohl, Europa war leuchtendes Beispiel dafür, wie man auf Kriegsgräbern ein starkes Fundament für in Frieden bauen kann. Unvergessen, wie Mitterand und Kohl sich über den Gräbern von Verdun die Hand reichten. Europa, das ist mittlerweile ein Kürzel für die Überwindung eines hasserfüllten, tödlichen Nationalismus, für das Heilen schlimmster Wunden. Nach dem Fall der Berliner Mauer schaffte es Europa ein zweites Mal, als Brücke innerhalb Europas zu dienen, als starke Klammer für die Staaten West- und Osteuropas. Die EU verband, einte - und reichte auch dem Balkan die Hand. Kroatien steht kurz vor dem Beitritt.
Es sind diese Versöhnungs- und Demokratisierungsleistungen der europäischen Integration, die das Nobelpreis-Komitee zurecht gewürdigt hat. Gleichzeitig will es die Auszeichnung als Mahnung verstanden wissen. Es handele sich um eine Botschaft an Europa, hieß es am Vormittag in Oslo. Europa müsse absichern, was es im Ringen um Versöhnung geschaffen habe.
Renaissance der Hauptstädte
Und hier kommt die politische Bedeutung dieses Preises zum Tragen. Denn in der Tat. Die europäische Integration ist ein epochaler Erfolg des 20. Jahrhunderts gewesen. Aber noch ist es nicht überzeugend gelungen, daraus auch ein verbindendes, erfolgreiches Projekt für das 21. Jahrhundert zu machen. Institutionelle Reformen hinken dem Tempo der EU-Erweiterungsrunden nach wie vor hinterher, nationale Egoismen können immer offener ausgelebt und verfolgt werden, längst gibt es eine Renaissance der Hauptstädte. Die Eurokrise ist nicht zuletzt auch Ausdruck davon, dass das grandiose Friedensprojekt an Strahlkraft verloren hat. Aufstrebende, selbstbewusste Staaten wie etwa die Türkei etwa zweifeln längst daran, ob sie es überhaupt noch nötig haben, sich der EU anzudienen. Die Krise wird begleitet und befeuert von sozialen Verwerfungen zwischen EU-Staaten aber auch innerhalb der Gesellschaften der Mitgliedstaaten. Die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der spanischen Jugend ist dafür das drastischste Beispiel. Für Europa ist es bei genauer Betrachtung seit zehn Jahren fünf vor zwölf.
Und so ist die Preisverleihung - wieder einmal - ein Weckruf. Denn mit der Auszeichnung ist die Botschaft verbunden, sich keinesfalls auf den Meriten der Vergangenheit auszuruhen. Die Idee Europas muss in die Moderne übersetzt werden, übrigens auch in die digitale, in die Details einer echten Wirtschafts- und Finanzunion, in einen auch sozial integrierten, und, ja, auch solidarischen Kontinent, in eine politische Einheit, die die Mitsprache ihrer Bürger nicht nur formal zulässt, sondern sie auch täglich lebt. Der Preis hat nun noch einmal beleuchtet, was die europäische Integration leisten kann und geleistet hat, als sie nicht im Sumpf des Kleinklein versank. Das just in dem Moment zu tun, in dem dieses Erbe auf der Kippe steht, ist eine gute Entscheidung.