Gigant China Freiheit süß-sauer

Von Adrian Geiges, Peking
Chinesen genießen Freiheiten wie nie zuvor - meinen die meisten Einheimischen und auch viele Ausländer, die in China leben. Und das trotz der Drangsal der Einparteien-Diktatur, die sich vor allem die Medien untertan macht. Aber auch die Presse kann anders. Zweiter Teil der stern.de-Serie "Gigant China".

Jeden Abend um 19 Uhr ist in China Schluss mit lustig. Wer vorher oder nachher durch die TV-Programme zappt, stolpert in einen One-Night-Stand, im 37. Teil einer der zwanzig Seifenopern, oder in eine der Varianten von: Das Reich der Mitte sucht den Superstar. Doch von 19 bis 19.30 Uhr übertragen fast alle Kanäle die Hauptnachrichten des Zentralen Fernsehens: Mit ernstem Gesicht verlesen ein Sprecher und eine Sprecherin die offizielle Version des Tagesgeschehens in protokollarischer Abfolge: Wen traf Staats- und Parteichef Hu Jintao? Welche Hände schüttelte Ministerpräsident Wen Jiabao? Erfolge in der Industrie. Erfolge in der Landwirtschaft. Die Sendung endet mit ein paar Kurzmeldungen aus dem Ausland, etwa dem Beginn eines neuen Krieges. Unvermeidlicher Eindruck nach einer halben Abendstunde: In China ist alles beim Alten.

Das stimmt aber nicht. Wer andere Informationssendungen sieht oder manche der Zeitungen liest, bei denen engagierte Journalisten arbeiten, findet auch ganz anderes: Katastrophen, Korruption, Skandale, Verbrechen. Blüht in China ein Stück Pressefreiheit?

Auch das nicht. Denn trotz aller Kommerzialisierung, auch in den Medien: In China gilt weiterhin das von Lenin entwickelte kommunistische Prinzip von der "Führung durch die Partei". Auch und gerade für Presse und Fernsehen. Wer als Journalist Karriere machen will, muss der Partei beitreten und ist damit an die strikte Disziplin der kommunistischen Kaderorganisation gebunden. Die Propaganda-Abteilung des Zentralkomitees der Partei verkündet regelmäßig verbindliche Vorgaben, worüber Medien berichten sollen und worüber auf keinen Fall. Tabu etwa sind die Jahrestage der Demokratiebewegung von 1989. Vor Parteikonferenzen und Olympia wird verlangt, "mehr Positives" zu berichten.

Der Kontrollwahn der Partei beschränkt sich nicht auf die Medien. Die Funktionäre haben Angst davor, dass sich Bürger versammeln oder organisieren. Das führt immer wieder zu absurden Widersprüchen. Zwar fördert die Führung Englischkurse für Jugendliche, weil sie gut für die Wirtschaftsbeziehungen zum Ausland sind. Wird die Fremdsprache aber unter freiem Himmel gelehrt und werden viele Zuhörer erwartet, verbietet die Polizei das oft wegen "Gefahr von Unruhen".

Darunter leiden auch die Religiösen. Zwar feiern Katholiken in Kirchen Gottesdienste - doch der Papst darf keine Bischöfe ernennen, das macht die Partei selbst. Jeder ist frei, als buddhistischer Mönch ins Kloster zu gehen. Hängt er dort aber ein Bild des Dalai Lama auf, kann er verhaftet werden.

Immerhin, der Spielraum wird größer. Während der Kulturrevolution mussten alle Jugendlichen als Rotgardisten aktiv für den Maoismus kämpfen. Jetzt kann man, wie die meisten Chinesen, die Partei für einen Verein von Langweilern und Karrieristen halten, sich stattdessen dem Geldverdienen oder dem Vergnügen widmen und dabei ein ungestörtes Leben führen - solange man die Partei nicht direkt angreift.

Internet und SMS erschweren die Kontrolle. Zwar zensiert der Staat auch hier, sperrt zum Beispiel Websites von Menschenrechtsgruppen und Tibet-Aktivisten oder löscht Forumsbeiträge mit bestimmten Stichwörtern. Die technischen Möglichkeiten dafür aber sind begrenzt. Viele Chinesen umgehen die Sperren mit spezieller Software oder einfach mit Schlauheit.

Als kürzlich Menschen in dem Ort Wengan gegen die Vertuschung eines mutmaßlichen Mords an einem Mädchen protestierten, gelangten die Zeichen für "Wengan" nicht mehr durch die Filter. Die Internet-Nutzer umgingen das, indem sie stattdessen "Heimat der Gangster" schrieben, denn die Regierung hatte die Demonstranten als "Gangster" bezeichnet. Alle Einträge mit dem Wort "Gangster" wollte die Regierung nun aber doch nicht löschen. Dann hätte sie ja ihre eigene Propaganda zensiert. So bleibt die Blogosphäre trotz aller Beschränkungen Chinas freieste Provinz.

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