In aktuellen Umfragen erreicht Ministerpräsident Alexis Tsipras immer noch fast das gleiche hohe Wahlergebnis wie im Januar, obwohl das Land am Abgrund steht. Geht es den Menschen vor allem darum, dass ihr verletzter Stolz wieder hergestellt wird?
Professor Dimitris Charalambis: Noch herrscht das Vertrauen, dass die linke Regierung - mit dem Ziel, einen annehmbaren Kompromiss zu erreichen - Initiativen vorbringt , die der massiven Verarmung eine Grenze setzen werden. Die Regierungen nach 2010 haben, ohne irgendeine Verhandlungsinitiative zu ergreifen, die von der Troika gestellten Bedingungen akzeptiert und gleichzeitig versucht, ihre Klientelnetzwerke zu retten. So ist die Last der Anpassung an die geforderte interne Abwertung, also die massive Austeritätspolitik der erzwungenen Verarmung, auf die ehrlichen Steuerzahler abgeladen worden und insbesondere auf die Lohnempfänger und Rentner. Die Löhne wurden um 40 Prozent gekürzt, die Renten noch massiver gesenkt und die Arbeitslosigkeit hat die 25 Prozent überschritten. Für die Betroffenen dieser internen Abwertung, wodurch das BSP um mehr als 26 Prozent geschrumpft ist, ist klar, dass Tsipras den richtigen Kurs fährt, wenn er weitere Kürzungen für unzumutbar hält.
Aber gleichzeitig ist eine große Mehrheit von fast 70 Prozent der Griechen bereit, auch einen schwierigen Kompromiss mit den Geldgebern zu akzeptieren ...
Vor allem die Älteren, die die Zeit vor der EU und der Eurozone kennen, wissen, dass die Wiedereinführung der Drachme eine ökonomische und soziale Katastrophe bedeuten würde. Aber Europa wird nicht nur buchhalterisch interpretiert: Ein Grexit würde auch eine große Identitätskrise in Griechenland auslösen. Wir haben eine sechzigjährige Integrationsgeschichte in Europa, an der Griechenland seit dem Assoziierungsabkommen von 1960 teilnimmt. Es ist ein bewusster Integrationsprozess, den die Mehrheit der Bevölkerung nicht aufs Spiel setzen will. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass der gesamte Demokratisierungsprozess Griechenlands, zumindest nach dem Sturz der Militärdiktatur (1967-1974), mit der Integration in Europa verknüpft ist und sogar identifiziert wird. Ein Austritt aus dem Euro würde eine Identitätskrise verursachen und zu einer nationalistischen Welle in Griechenland führen, die bei Weitem den Einfluss der rechtsradikalen goldenen Morgenröte übertreffen würde.
Unsere Geschichte ist charakterisiert von dem Prozess der Integration Griechenlands in den kulturell-politischen Raum der westlichen Welt der demokratischen postrevolutionären Moderne. Es war von Anfang an der Weg nach Westen, wobei für das griechische Selbstverständnis es kein Weg wohin war, sondern die Konsequenz aus dem demokratischen Erbe. Schließlich hat Griechenland einen brutalen und blutigen Bürgerkrieg (1944, 1946-1949) nach der deutschen Okkupation (1941-1944), durchmachen müssen, um die Westintegration zu festigen. Dass Griechenland sich Russland oder China annähern würde, falls die Verhandlungen mit den Gläubigern scheitern würden, ist deswegen eher Verzweiflungsrhetorik.
Die aggressive Rhetorik von Tsipras Anfang der Woche im griechischen Parlament klang nicht nach Kompromiss. Er hat den Internationalen Währungsfonds als "kriminell" bezeichnet ...
… wobei auch das Gerede von den griechischen "Pokerspielern" und "Abzockern" nicht unbedingt zur Konsolidierung des erforderlichen Vertrauens beiträgt. Diese beiderseitige negative Rhetorik ist leider eine logische Konsequenz der letzten fünf Monate. Wenn langwierige Verhandlungen ergebnislos bleiben, dann - was besonders gefährlich ist - geraten die vernünftigen Stimmen ins Abseits. Sie dürfen auch nicht vergessen, dass Syriza bei den Wahlen von 2007 3,4 Prozent der Stimmen bekommen hatte. Acht Jahre später bekam sie 37 Prozent. Syriza ist durch die vergangenen fünf Krisenjahre an die Macht katapultiert worden, was eine logische Folge der enttäuschenden Politik der Konservativen und der Pasok-Sozialisten gewesen ist. Aber der Führungskern der ursprünglichen Drei-Prozent-Partei, der einen Großteil der Abgeordneten von Syriza im Parlament und in der Parteiführung ausmacht, übt Druck auf Tsipras aus. Für sie haben der Euro und die Eurozone keine besondere Priorität. Für sie ist die EU, zumindest die gegenwärtige, real existierende Eurozone, Zentrum der neoliberalen Politik von Großkapitalinteressen. Ein Ausstieg aus dem Euro ist kein Tabu. Auch weil sie überzeugt sind, dass die Eurozone, so wie sie im Moment organisiert ist, sich nicht halten kann.
Eine Einigung mit den Geldgebern scheitert also im Moment auch daran, dass Tsipras zu wenig in der Hand hat, um seine Partei von einem Kompromiss überzeugen zu können?
Alexis Tsipras ist gewählt worden, damit die Lage der Bevölkerung nicht durch weitere ineffektive, ja absurde Forderungen der Troika noch schlimmer wird. Aber der Partei-Kern ist zum ersten Mal mit den politischen Realitäten in Europa konfrontiert - und das unter den Bedingungen einer asymmetrischen Machtkonstellation, die man verhandlungstechnisch als solche zu bewältigen hat, um rational handeln zu können ohne das Ziel zu verlieren. Deswegen muss Tsipras eine gewisse Aggressivität und Hartnäckigkeit bei seinen Auftritten vor den Parteikadern demonstrieren. Aber dann lieber auf den Internationalen Währungsfonds schimpfen, der keine europäische Institution ist und keinen unbedingten Bestandteil der europäischen Schicksalsgemeinschaft darstellt wie die Kommission und die EZB.
In den letzten Tagen wird immer offensichtlicher, dass der Premierminister und die entscheidenden Persönlichkeiten der Regierung die Ziele und Wünsche der Kerngruppe der ursprünglichen Partei mit den Erfordernissen und mit der Verantwortung der jetzigen Regierungspartei in Einklang zu bringen versuchen. Das ist keine leichte Aufgabe. Der Weg von 3,4 auf 37 Prozent war zu kurz und zu emotional beladen und die konservative Ablehnung aus dem Ausland sehr stark, da der Fall Syriza so oder so ein Exempel für Europa statuieren kann.
Vergangene Woche haben die Griechen mehr als fünf Milliarde Euro von ihren Bankkonten abgehoben, weil die Angst vor Kapitalverkehrskontrollen umgeht. Beobachten Sie diese Angst auch unter ihren Freunden und Bekannten?
Nun gut, die werden mir nicht sagen, wann sie Geld abheben. Aber es ist doch logisch: Wenn Sie nicht wissen, ob Sie am Ende des Monats Ihr Gehalt in Euro oder in Drachmen oder in Schuldscheinen kriegen, heben Sie sofort alles ab, weil Sie vielleicht übermorgen kein Geld abheben können aber nur noch mit Bargeld weiterkommen. Das gilt natürlich auch für das Ersparte. Es ist die Angst vor der brutalen Abwertung und der darauffolgenden Hyperinflation, die den Leuten zu schaffen macht. Die Reichen und die Reicheren haben ihr Geld schon längst ins Ausland transferiert - es wäre übrigens interessant zu wissen, wie viel davon nach Deutschland geflossen ist. Man rechnet damit, dass die Regierung vielleicht Schuldscheine ausgibt, die man dann auf dem Schwarzmarkt gegen Euro tauschen müsste.
Andererseits ist die Vorstellung, dass von heute auf morgen alles untergehen wird, dass die letzten 60 Jahre plötzlich verpuffen werden - da sowieso niemand ein Verbleiben Griechenlands in der EU nach einem Austritt aus der Eurozone für möglich hält - so unvorstellbar, dass die meisten glauben, dass das nicht stattfinden kann. Dass aber das Unerwartete oder das Irrationale doch wahr werden kann, darf uns nicht überraschen. Es ist viel zu oft in der Geschichte passiert. Schließlich redet man deswegen immer öfter von einem Graccident. Leider versprechen die festgefahrenen Fronten trotz der mittlerweile wirklich minimalen Differenzen nichts Gutes.
Von dieser Angst sind diejenigen weniger betroffen, die ihr Geld ins Ausland gebracht haben ...
Ja, nach einem Grexit wird eine Zweiklassengesellschaft entstehen. Eine noch dramatischere Umverteilung zu Gunsten der Steuerhinterzieher und Steuervermeider, die eigentlich der Grund des Elends der katastrophalen Verschuldung Griechenlands sind, wird unvermeidlich sein. Wer Euros im Ausland hat, wird weiter gut, bzw. dank massiver Abwertung der neuen nationalen Währung viel besser in Griechenland leben können. Wir werden dann ausgegrenztes Drachmen-Prekariat und glückliche Euro-Konsumenten im Land haben. Für Euro-Besitzer und interessierte Ausländer wird eine nie dagewesene Party anfangen. Die würden auf Mykonos Häuser und Grundstücke für 100.000 kaufen, die jetzt eine Million kosten und vor fünf Jahren zwei Millionen gekostet haben.
Wem würden die Griechen bei einem Grexit die Schuld geben?
Auf Dauer und als Folge der Identitätskrise wird bei der Schuldzuweisung der Nationalismus die Oberhand gewinnen. Die EU muss sich aber die Frage stellen, ob sie es sich wirklich leisten kann, einen gesellschaftlichen Zusammenbruch mitten in Europa zu riskieren - von den geostrategischen Implikationen und den immensen Kosten der dann misslungenen Rettungsstrategie mal abgesehen.
Die Schuldzuweisung ist eigentlich das Wenigste und sie wird nur die Einleitung für eine weitreichende Destabilisierung der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Griechenland sein. Offen bleibt nach einem Grexit auch, was nach der nächsten Rezension der globalisierten Wirtschaft - und die wird bestimmt kommen - passieren kann. Erst dann, fürchte ich, und zu spät wird man einsehen, dass mit dem Grexit erneut Spekulationsfelder eröffnet worden sind, die die problematische Konstruktion der Eurozone zum Sturz bringen können und werden. Somit wird der Grexit den Anfang des Erosionsprozesses der Eurozone bedeuten und somit des europäischen Projektes.