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Dutzende Belästigungsvorwürfe Sexismus-Skandal im britischen Parlament: Spitzenpolitikerin muss sich für "überschlagene Beine" rechtfertigen

Vize-Labourchefin Angela Rayner
Vize-Labourchefin Angela Rayner wehrt sich gegen Vorwürfe: "...weil ich eine Frau bin, Beine habe und Kleidung trage"
© Jessica Taylor / UK Parliament / AFP
Dem britischen Parlament wird schon lange eine problematische Arbeitskultur attestiert. Nun zeichnen neue Belästigungsvorwürfe gegen mehr als 50 Abgeordnete ein skandalöses Bild. Für besonderes Aufsehen sorgt der Fall der Vize-Labourchefin.

Es ist eine Geschichte, die sich liest, als wäre sie dem Drehbuch des derzeitigen Netflix-Hits "Anatomie eines Skandals" entsprungen. Am Sonntag veröffentlichte die britische Boulevardzeitung "Mail on Sunday" anonym die Aussagen mehrerer konservativer Abgeordneter, die der Vizechefin der Labour-Partei, Angela Rayner, vorwerfen, Premierminister Boris Johnson in Parlamentssitzungen mit ihrem Körper abzulenken. Wortwörtlich heißt es dort, Rayner würde in der wöchentlichen Befragung des Premiers, wo sie ihm gegenübersitzt, absichtlich die Beine "übereinanderschlagen und wieder öffnen". Die besagten hochrangigen Tory-Mitglieder verglichen die Abgeordnete dabei mit der berüchtigten Sharon-Stone-Szene aus dem Film "Basic Instinct".

Kaum war der Artikel erschienen, ging ein Aufschrei durch das politische London. In einer Reihe wütender Tweets wies die Vize-Labourchefin die Vorwürfe zurück und bezeichnete sich als Opfer von "Sexismus und Frauenfeindlichkeit". "Ich werde eines 'Tricks' beschuldigt, um den hilflosen Premierminister 'abzulenken' – indem ich eine Frau bin, Beine habe und Kleidung trage", schrieb Rayner.

Auch der Premier selbst distanzierte sich sogleich öffentlich von den Vorwürfen, die er als "sexistisch, frauenfeindlich und albern" betitelte und twitterte, er bedauere die gegen Rayner gerichtete Frauenfeindlichkeit. Am Montag versprach Johnson zudem, dass, sollte die Quelle des Artikels aufgedeckt werden, diejenige Person den "Schrecken der Erde" erleben würde.

Britische Vize-Labourchefin weist sexistische Vorwürfe zurück

In einem Fernsehinterview am Dienstag berichtete die Vize-Labourchefin, wie sie vorab von der "Mail on Sunday" kontaktiert worden sei. Sie habe der Zeitung daraufhin erklärt, dass die Behauptungen falsch seien und darum gebeten, diese nicht zu veröffentlichen – auch weil sie "niedergeschlagen" über die Folgen war, die der Artikel auf ihre Söhne im Teenageralter haben könnte.

Abgesehen von seinem sexistischen Ton und Inhalt porträtiert der Artikel Rayner als junge alleinerziehende Mutter aus der Arbeiterklasse, die nicht mit Johnson – und dessen elitärer Oxford-Ausbildung und seinen Fähigkeiten als Redner – mithalten könne. Der Artikel sei von Klassenvorurteilen nur so durchdrungen, kritisierte die Labour-Politikerin im Gespräch mit dem Fernsehsender "ITV". Er konzentriere sich lediglich darauf, "woher ich komme und wie ich aufgewachsen bin" und würde andeuten, dass sie aufgrund ihrer normalen staatlichen Schulbildung "dumm" sei. "Sie sprechen über meinen Hintergrund, weil ich ein Kind hatte, als ich jung war, als wollten sie sagen, ich sei promiskuitiv – das war die Anspielung, die ich als ziemlich beleidigend empfand", fügte Rayner hinzu.

Nach Veröffentlichung des Artikels sicherten mehrere Abgeordnete der Vize-Labourchefin öffentlich ihre Unterstützung zu. Viele äußerten ihre Befürchtungen darüber, dass der Ruf des Parlaments, das in den letzten Jahren bereits unter mehreren Skandalen gelitten hatte, nun weiter in Mitleidenschaft gezogen werden könnte.

Auch Mandu Reid, Vorsitzende der feministischen "Women’s Equality Party", forderte, den Blick auf das große Ganze zu richten. "Dies wäre überhaupt keine Geschichte, wenn Westminster und das breite politische System in Großbritannien nicht von Frauenfeindlichkeit durchdrungen wären", betonte sie. Reid wies zudem auf "die frauenfeindliche Berichterstattung der Medien hin, die Frauen einerseits davon abhält, politisch aktiv zu werden und andererseits ihre Leistungen unterschätzt und falsch darstellt, wenn sie sich engagieren".  Insgesamt gingen laut einer unabhängigen Medienregulierungsbehörde mehr als 5.500 Beschwerden über den Artikel ein.

Arbeitskultur im Parlament soll untersucht werden

Doch damit nicht genug: Am selben Tag, an dem der "Mail on Sunday"-Artikel erschien, berichtete die "Sunday Times", dass drei Mitglieder der britischen Regierung sowie Dutzende weitere Abgeordnete wegen mutmaßlicher sexueller Belästigung an ein Aufsichtsgremium gemeldet worden sind. Insgesamt seien 70 Beschwerden über 56 namentlich nicht genannte Abgeordnete bei der unabhängigen Anlaufstelle eingegangen. Das parlamentarische Gremium war 2018 nach dem #MeToo-Skandal ins Leben gerufen worden.

Die Vorwürfe reichen von Berichten über unangemessene, sexuell konnotierte Kommentare bis hin zu schwerwiegenderen Belästigungen. Mindestens ein Fall könnte laut der Zeitung strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Dabei soll ein Abgeordneter eine Person aus seinem Mitarbeiterkreis im Gegenzug für sexuelle Gefälligkeiten bestochen haben.

Angesichts der hohen Zahl an Beschwerden kündigte Parlamentspräsident Lindsay Hoyle dem Bericht zufolge an, die Arbeitskultur im Parlament zu überprüfen. Dave Penman, Generalsekretär der Gewerkschaft FDA, die Beschäftigte im öffentlichen Dienst repräsentiert, sieht das Problem vor allem im Machtgefälle zwischen Abgeordneten und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. So könnten die Parlamentarier beispielsweise weitgehend unabhängig über ihre Belegschaft entscheiden.

Hinzukommt, dass der aktuelle Frauenanteil im Parlament zwar so hoch ist wie noch nie – Frauen jedoch gleichzeitig nur 35 Prozent der im Unterhaus sitzenden Abgeordneten und lediglich 28 Prozent der Mitglieder im Oberhaus ausmachen. Vor den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2019 gaben bereits mehrere Politikerinnen Belästigungen und Machtmissbrauch als Gründe für ihren Rückzug aus dem Parlament an. Frauenrechtsorganisationen befürchten nun, dass die vorherrschende Kultur im Parlament andere Frauen davon abhalten könnte, sich überhaupt für einen Posten zu bewerben.

Ein Regierungssprecher sagte der "Times": "Wir nehmen alle Vorwürfe dieser Art unglaublich ernst und ermutigen alle Betroffenen, sich bei den entsprechenden Stellen zu melden."

Der nächste Skandal lauert schon

Der Fall der Vize-Labourchefin und die zahlreichen Belästigungsvorwürfe haben die Debatte über Sexismus in der britischen Politik neu angefacht. "Die Wahrheit ist, dass Frauenfeindlichkeit lebendig und gesund ist und die Korridore des Unterhauses heimsucht", sagte Harriet Harman, die am längsten amtierende weibliche Abgeordnete und eine lebenslange Verfechterin von Frauenrechten. Mit Blick auf Angela Rayner erklärte sie im Gespräch mit "LBC Radio", dass dieser Fall symptomatisch sei für "die Gegenreaktion, die man immer bekommt, wenn Frauen Fortschritte machen", und fügte hinzu, dass "es einige Männer gibt, die das Gefühl haben, sie zurückdrängen zu müssen".

Während nun besonders viele konservative Abgeordnete darauf hoffen, dass sich die Wogen wieder glätten, kommt der nächste Skandal erneut aus den eigenen Reihen. Mitten im Sitzungsaal soll ein Abgeordneter dabei erwischt worden sein, wie er auf seinem Handy einen Porno guckte. Eine neben ihm sitzende Kabinettskollegin habe den Vorfall miterlebt und gemeldet, berichtete der "Daily Mirror" und gab an, dass es sich bei dem Beschuldigten um ein Regierungsmitglied handele. Chris Heaton-Harris, der sogenannte Chefeinpeitscher ("Chief Whip") der Tories, bezeichnete das Verhalten als "völlig inakzeptabel" und kündigte eine Untersuchung an.

Premierminister Boris Johnson war indes gezwungen am Mittwoch erneut zu betonen, dass Frauenfeindlichkeit keinen Platz im Parlament habe und sexuelles Fehlverhalten als Entlassungsgrund gelte.

Quellen: "Guardian", "Sunday Times", "ITV", "Daily Mirror", mit DPA-Material

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