Großbritannien Wie wählen die Briten?

Am Donnerstag stellt sich Premierminister Tony Blair rund 44 Millionen stimmberechtigten Bürgern. Wie geht so eine Unterhauswahl vor sich? Wer hat wann gewonnen? stern.de erklärt das britische Wahlsystem.

Das britische Parlament setzt sich aus zwei Kammern zusammen, dem Oberhaus und dem Unterhaus. Im Oberhaus - dem "House of Lords" - sitzen rund 700 Mitglieder, die weder gewählt noch bezahlt werden. Es handelt sich hauptsächlich um auf Lebenszeit ernannte Abgeordnete, aber auch um Erb-Adelige und um Bischöfe. Im Gesetzgebungsverfahren ist die Rolle der Lords allerdings vor allem auf die Überprüfung von Vorlagen beschränkt.

Rund 3500 Bewerber für 646 Mandate

Wichtiger ist das Unterhaus - "The House of Commons" - das über Gesetze und vor allem den Haushalt entscheidet. Der Mehrheitsführer im Parlament wird von der Königin auch zum Premierminister ernannt. Die Legislaturperiode des Unterhauses dauert fünf Jahre, allerdings kann es von der Königin auf Bitte des Premiers hin jederzeit aufgelöst werden. Ein Premier versucht deshalb, das Unterhaus dann aufzulösen, wenn die politische Stimmung für ihn günstig erscheint.

Bei den Wahlen 2001 konnte die Labour-Partei 412 von 659 Abgeordnetenmandaten und damit eine klare Mehrheit gewinnen. Mittlerweile wurde die Zahl der Mandate auf 646 Mandate verringert, so dass zur absoluten Mehrheit 324 Abgeordnete erforderlich sind. Bei der Wahl am 5. Mai ringen rund 3500 Bewerber aus mehr als 100 verschiedenen politischen Parteien und Gruppierungen um den Einzug ins Parlament. Insgesamt gibt es 44,2 Millionen Wahlberechtigte.

Wer die meisten Stimmen hat, fährt nach London

Bei Bundestagswahlen in Deutschland wird die erste Stimme an einen Kandidaten für den Wahlkreis vergeben, die zweite an eine Liste, also eine Partei. Derjenige Kandidat, der im Wahlkreis die meisten Stimmen erhält, zieht in den Bundestag ein. Gleichzeitig erhält aber jede Partei auch jene Anzahl von Mandaten, die ihrem Anteil an den Zweitstimmen entspricht.

Im Unterschied zu dieser Kombination von Mehrheits- und Verhältniswahlrecht ist das System in Großbritannien einfacher. Dort gilt das reine Mehrheitswahlrecht. Derjenige Kandidat, der in einem Wahlkreis die Mehrheit der Stimmen erhält, gewinnt ein Mandat im Parlament. Dieses Mehrheitswahlrecht ist seit 1918 in Kraft.

Die Mehrheitswahl ist überwiegend eine Persönlichkeitswahl, bei der die Stimmen der abgeschlagenen Kandidaten verloren gehen. Eine Stimme die an den Verlierer geht, ist weg. In Deutschland ist das zwar bei dem Wahlkreiskandidaten auch so. Aber durch die Zweitstimme kann die jeweilige politische Ansicht trotzdem in den Bundestag gewählt werden.

Erstaunliche Folgen des Systems

In Großbritannien kann das Mehrheitswahlrecht sogar dazu führen, dass eine Partei zwar die meisten Gesamtwählerstimmen auf sich vereinigt, aber dennoch weniger Abgeordnete stellt als eine andere Partei, die mit knapperen Mehrheiten insgesamt mehr Stimmbezirke erobern konnte. Dies passierte der Labour Party 1951. Im Februar 1974 wiederum gewannen die Konservativen zwar die meisten Stimmen, aber weniger Mandate als Labour.

Was für Auswirkungen das Mehrheitswahlrecht haben kann, zeigt auch das Wahlergebnis von 2001. Damals gewann die Labour-Partei landesweit 41 Prozent der Stimmen, jedoch 63 Prozent der Parlamentssitze. Experten gehen davon aus, dass die Wahlkreiseinteilung Labour auch gegenüber den Konservativen Vorteile verschafft. Eine große Zahl von Wahlkreisen umfassen städtische Labour-Hochburgen. Es wird damit gerechnet, dass die Konservativen einen deutlich höheren prozentualen Wähleranteil erreichen müssen, um die Regierung übernehmen zu können.

Kleine Parteien spielen nur geringe Rolle

Weil nur die Parteien, die in dem einen oder anderen Wahlkreis eine Mehrheit erobern können, Vertreter ins Parlament schicken können, spielen kleinere Parteien in Großbritannien nur eine geringe Rolle. Es dominieren die großen Parteien, die Konservativen (Tories) und die Sozialdemokraten (Labour). Daneben treten allenfalls noch die Liberaldemokraten sowie die nationalistischen Parteien aus Schottland, Wales und Nordirland im Parlament auf.

Ein Vorteil des britischen Mehrheitswahlrechts ist zweifellos, dass sich meist klare parlamentarische Mehrheiten ergeben, was auch schnelle Regierungsbildungen ermöglicht. Nur im Februar 1974 erreichte die siegreiche Labour Party keine absolute Mehrheit, was in der jüngeren Geschichte Großbritanniens einmalig war. Die Partei bildete daraufhin eine Minderheitsregierung und setzte schon für Oktober desselben Jahres eine Neuwahlen an, die ihr die notwendige Mehrheit sicherte.

Kritik der Minderheiten

Als weiterer Vorzug des britischen Wahlsystems wird stets angeführt, dass ein direkt gewählter Abgeordneter seinem Stimmbezirk stärker rechenschaftspflichtig sei, als wenn er über eine Liste ins Parlament eingezogen wäre. Kleinere Parteien kritisieren das System indessen als unfair gegenüber Minderheiten. Die Liberaldemokraten etwa errangen in ihrem bislang besten Wahljahr 1983 rund 25 Prozent der Stimmen, aber nur 23 von rund 650 Parlamentssitzen.

Reuters
GÜS mit AP/REUTERS

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