Mittwoch am frühen Morgen in Hongkong. Mehr als 200 Polizisten stürmen die Redaktion der unabhängigen Nachrichtenseite "Stand News" und durchsuchen die Wohnungen mehrerer Redakteure. In einem Live-Video ist zu sehen, wie Beamte vor der Tür eines Redakteurs auftauchen und ihm einen Durchsuchungsbefehl wegen "Verschwörung zur Veröffentlichung einer aufrührerischen Publikation" vorhalten. Sechs aktuelle und ehemalige Mitarbeiter werden in Gewahrsam genommen – darunter Chefredakteur Patrick Lam, dessen Vorgänger Chung Pui-kuen sowie die Anwältin und ehemalige Abgeordnete Margaret Ng. Die Popsängerin Denise Ho, die wie Ng einst im Vorstand von "Stand News" saß, wurde laut ihrer Facebook-Seite ebenfalls festgenommen.
In einer Erklärung der Polizei heißt es, der Durchsuchungsbefehl ermächtige die Einsatztruppe, "relevantes journalistisches Material zu durchsuchen und zu beschlagnahmen". Ein Video vom Tatort zeigt, wie die Beamten reihenweise Kisten aus dem Gebäude tragen.
Ein paar Stunden später meldet "Stand News" via Facebook, dass das pro-demokratische Nachrichtenmedium nun nicht mehr erscheinen wird. Chefredakteur Lam sei zurückgetreten und alle Beschäftigten entlassen worden, heißt es in dem Post. Die Website und die Social-Media-Seiten würden nicht mehr aktualisiert und bald vollständig gelöscht.
Hongkong: Behörden gehen hart gegen Kritiker Chinas vor
Das abrupte Ende von "Stand News" ist nur der jüngste Vorfall in einer Reihe von Angriffen auf die Meinungs- und Pressefreiheit in der chinesischen Sonderverwaltungszone. Erst im Juni musste die pro-demokratische Zeitung "Apple Daily" dicht machen, nachdem ihr Vermögen eingefroren und die leitenden Angestellten verhaftet wurden – der stern berichtete. Der 74-jährige Eigentümer und Demokratieaktivist Jimmy Lai sitzt inzwischen im Gefängnis.
Seit den Massenprotesten 2019 gehen die Hongkonger Behörden immer härter gegen kritische Stimmen vor. Über Monate hinweg waren damals Aktivisten auf die Straße gegangen und hatten gegen den wachsenden Einfluss Pekings protestiert. Zur selben Zeit erlangte auch das 2014 gegründete Nachrichtenmedium "Stand News" internationale Bekanntheit. Die von Reportern gefilmten Liveaufnahmen eines brutalen Angriffs von maskierten Schlägern auf pro-demokratische Demonstranten in einer U-Bahn-Station gingen um die Welt.
Mit dem im Juli 2020 in Kraft getretenen umstrittenen Sicherheitsgesetz, hat sich Pekings Macht noch vergrößert. Die vage Formulierung des Gesetzestextes erlaubt den Behörden radikal gegen alle Aktivitäten vorzugehen, die ihrer Auffassung nach die nationale Sicherheit Chinas bedrohen. Unter dem Gesetz wurden bereits mehr als 100 Aktivisten festgenommen, verurteilt oder warten auf ihren Prozess. Aus Angst vor Strafverfolgung haben sich viele Oppositionsmitglieder und Medienschaffende ins Ausland abgesetzt.
"Stand News" schon lange Dorn im Auge der Behörden
Nach der erzwungenen Schließung von "Apple Daily" rückte "Stand News" immer weiter ins Visier der Hongkonger Behörden. Um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen, traten im Juni sechs leitende Mitarbeiter zurück. Zudem wurden alle Meinungsartikel und Kolumnen aus dem Netz genommen, um die Autorinnen und Autoren zu schützen. Im November wurde "Stand News" von Reportern ohne Grenzen in der Kategorie "Unabhängigkeit" nominiert, weil sie trotz Repressalien ihrer Arbeit weiter nachgingen.
In den letzten Wochen erhöhten die Behörden den Druck. So beschuldigte der Chef der Sicherheitsbehörden, Chris Tang, das Nachrichtenmedium Anfang Dezember, "voreingenommen, verleumderisch und dämonisierend" über das neue Gefängnissystem der Stadt zu berichten.
Zuvor war "Stand News" bereits durch seine Mitarbeit an den sogenannten Pandora Papers aufgefallen. Als einziges Medium in Hongkong hatte die Redaktion mit dem International Consortium of Investigative Journalists zusammengearbeitet, um den verborgenen Reichtum und die Steuerstrukturen einiger der reichsten und mächtigsten Menschen der Welt zu enthüllen.
Ende von "Stand News" sorgt für Bestürzung
Weltweit löste das Ende von "Stand News" bestürzte Reaktionen aus. Das Komitee zum Schutz von Hongkonger Journalisten (HKJA) bezeichnete die Razzia als "offenen Angriff auf die ohnehin schon zerrüttete Pressefreiheit in Hongkong". Auch die Vereinigung der Hongkonger Auslandskorrespondenten (FCC) sprach von "einem weiteren Schlag für die Pressefreiheit". "Empörend. Nach dem Fall der Apple Daily ist StandNewsHK das größte pro-demokratische Medium in HK, das unsere Pressefreiheit schützt", twitterte der im Exil lebende Demokratie-Aktivist Sunny Cheung. "Es ist offensichtlich, dass Peking die politische Säuberung nicht aufgibt. Peking löst jeglichen Raum der Opposition auf."
Die Redaktion des Nachrichtenmediums bedankte sich am Mittwoch bei den Leserinnen und Lesern für ihre Treue. "Stand News" sei gegründet worden, um "in Hongkong Stellung zu beziehen", hieß es in der Erklärung auf Facebook. Es sei stets "redaktionell unabhängig" geblieben und habe sich "dem Schutz der Grundwerte Hongkongs wie Demokratie, Menschenrechte, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit verschrieben".
Jene Grundwerte, die unter dem umstrittenen Sicherheitsgesetz immer mehr in Bedrängnis geraten. Schon im Juli warnte das HKJA, dass die Pressefreiheit in Hongkong ein neues Allzeittief erreicht hat. Die unabhängigen Medien lassen sich in der chinesischen Sonderverwaltungszone inzwischen an einer Hand abzählen. Zudem zeigt eine aktuelle Umfrage des FCC, dass fast die Hälfte von 100 befragten Reportern über einen Ausstieg aus dem Journalismus nachdenken.
Das Ende von "Stand News" ist damit ein weiterer Nagel auf den Sarg der freien Presse in Hongkong.