Ein Jahr ist es her, dass China die Schlinge um Hongkong zugezogen hat. Am 30. Juni 2020 wurde in der Sonderverwaltungszone ein nationales Sicherheitsgesetz (NSL) verabschiedet, dass die Stadt grundlegend verändern sollte.
Während vor zwei Jahren noch Bilder der Regenschirm-Demonstrationen aus Hongkong um die Welt gingen, ist es nun still geworden in der 7,5-Millionen-Metropole. Nachbarn werden aufgefordert sich gegenseitig zu melden, Kindern wird beigebracht, nach Verrätern zu suchen. Die politische Opposition wurde weitgehend zerschlagen, prodemokratische Zeitungen mussten schließen – und tausende Einwohner sind ins Ausland geflohen.
Mehr als 100 Festnahmen aufgrund des neuen Gesetzes
Pekings langer Arm kam nicht über Nacht. Hongkong war schon immer eine Blase. Als die ehemalige britische Kolonie 1997 wieder China zugeordnet wurde, sicherte Peking der Sonderverwaltungszone eine weitreichende Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheit zu – unvorstellbar auf dem Festland. Die Vereinbarung lautete "ein Land, zwei Systeme". Doch unter dem neuen Staatschef Xi Jinping wuchs die Angst der Kommunistischen Partei Chinas, die Kontrolle über Hongkong zu verlieren.
Als 2019 Tausende Menschen in Hongkong auf die Straßen gingen, um für mehr Demokratie zu protestieren, zog Peking mit dem Sicherheitsgesetz einen Schlussstrich. Bewusst vage formuliert stellt das Gesetz alles unter Strafe, das als separatistisch, terroristisch oder subversiv gilt sowie eine Verschwörung mit ausländischen Kräften darstellt. In den vergangenen zwölf Monaten wurden laut einer Analyse des britischen "Guardian" mindestens 128 Menschen im Zusammenhang mit dem Gesetz verhaftet, darunter drei Minderjährige sowie dutzende Politiker und Journalisten. Die Polizei von Hongkong meldete 113 Verhaftungen, das nationale Sicherheitsbüro 115.
Mehr als die Hälfte wurde wegen Verstößen gegen die nationale Sicherheit angeklagt, die zu lebenslanger Haft führen können; mindestens 40 Menschen sitzen in Untersuchungshaft. Da der erste Fall erst letzte Woche vor Gericht kam, stehen die Urteile noch aus. Doch Experten sehen die überstürzten Verhaftungen und die langsame Strafverfolgung als bewusste Strategie, um Angst zu schüren und das Recht auf ein faires Verfahren zu gefährden. "Es liegt ganz in ihrer Hand, ob und wann sie die Festgenommenen strafrechtlich verfolgen", sagte der Hongkonger Rechtswissenschaftler Eric Lai dem "Guardian". "[Dies nicht zu tun] erzeugt in der Gesellschaft einen verstummenden Effekt, eine Vorstellung, dass jeder auch ohne Anklage willkürlich festgenommen werden könnte und so nicht frei sprechen und an der politischen Gesellschaft teilnehmen kann."
Chinas Einfluss ist omnipräsent
Der "verstummende Effekt" ist in Honkong längst Realität geworden. Nur wenige Menschen sind noch bereit, sich öffentlich gegen die Regierung zu äußern. Im Verfahren gegen den berühmten Medienunternehmer und Aktivisten Jimmy Lai sowie in weiteren Anhörungen wurden Interviews der Angeklagten mit ausländischen Medien zitiert. Die Abschreckungsmethoden zeigen ihre Wirkung – und viele Menschen sind tief verunsichert. Was darf man noch sagen, was überschreitet schon die rote Linie?
Inzwischen verstopfen Einwohner die Polizei-Hotlines, um Anzeige gegen illoyale Nachbarn oder Kollegen zu erstatten, wie die "New York Times" berichtet. Regierungsbeamten wird befohlen eine schriftliche Version des "biao tai"-Eids – ein Treuegelöbnis gegenüber dem Festland – zu unterschreiben. Die Hongkonger Regierung hat einen neuen Lehrplan herausgegeben, der die "Zuneigung zum chinesischen Volk" wecken soll. Öffentliche Bibliotheken haben Dutzende Bücher aus dem Verkehr gezogen, darunter eines über Martin Luther King Jr. und Nelson Mandela. Auch in der Geschäftswelt wird die wachsende Macht Pekings sichtbar. Immer mehr ausländische Unternehmen schließen ihre Standorte in der einstigen "Weltstadt Asiens" und werden durch chinesische Firmen ersetzt.
Der Einfluss des Festlands ist in Hongkong inzwischen omnipräsent – und dennoch besteht Peking darauf, den Schein zu wahren und seine guten Absichten zu bekräftigen. Als China das Wahlsystem Hongkongs überarbeitete, um Kandidaten zu entfernen, die es für illoyal hielt, bezeichnete Peking die Änderungen als "Perfektionierung des Wahlsystems". Als mit Apple Daily eine der letzten großen pro-demokratischen Zeitungen dicht gemacht wurde, warf die Regierung der Redaktion vor selbst die "sogenannte Pressefreiheit" missbraucht zu haben. Als Dutzende Oppositionspolitiker eine informelle Vorwahl organisierten, beschuldigten chinesische Beamte sie die Regierung zu untergraben und verhafteten sie.
Menschenrechtsorganisationen kritisieren Sicherheitsgesetz
Mit wachsender Sorge beobachten Menschenrechtsorganisationen die Entwicklungen in Hongkong. Amnesty International warf den Behörden in einem am Mittwoch veröffentlichten Bericht grundlose Festnahmen, Schikanen und Zensur vor. Unter dem Deckmantel der "nationalen Sicherheit" würden in der Millionenmetropole Grundrechte systematisch eingeschränkt und kritische Stimmen kriminalisiert.
In nur einem Jahr habe das Gesetz Hongkong "einem Polizeistaat nahegebracht und ein Klima der Angst geschaffen, das in allen Teilen der Gesellschaft zu spüren ist – von Politik über Kultur, Bildung bis hin zu den Medien", sagte Theresa Bergmann, Asien-Expertin der deutschen Amnesty-Sektion. Amnesty forderte die Behörden auf, alle Anklagen wegen Ausübung der Menschenrechte fallen zu lassen. Zudem soll der UN-Menschenrechtsrat eine Dringlichkeitsdebatte über die Lage der Menschenrechte in China und Hongkong ansetzen.
Bereits vergangene Woche beschuldigte Human Rights Watch die Hongkonger Regierung mit dem Sicherheitsgesetz "systematisch die Menschenrechte abgebaut" zu haben. "Die Menschen in Hongkong sehen zu, wie die chinesische Regierung Schnellfeuerschritte unternimmt, um ihre demokratische Gesellschaft zu zerstören", sagte Maya Wang, leitende China-Expertin der Menschenrechtsorganisation. "Früher redeten sie über Politik, kandidierten für Ämter und kritisierten die Regierung, aber das ist jetzt nicht nur verboten, sondern kann mit lebenslanger Haft bestraft werden."
Die jüngsten Entwicklungen haben die schlimmsten Befürchtungen vieler Hongkonger bestätigt: Das "ein Land, zwei Systeme"-Versprechen ist mit dem Sicherheitsgesetz endgültig gestorben.
Quellen: "New York Times", "Guardian", mit DPA