Ikone der Iran-Proteste Neda, die Tapfere

  • von Sebastian Huld
Erstmals hat sich die Mutter von Neda Agha-Soltan, deren Tod bei den Demonstrationen im Iran zum Symbol des Widerstands wurde, an die Öffentlichkeit gewandt. Sie gibt erschütternde Einblicke in den Schmerz der Hinterbliebenen und berichtet voller Liebe von ihrer Tochter.

Sie hat es vielleicht kommen sehen. Die junge Frau, die die ganze Welt nur unter ihrem Vornamen Neda kennt, berichtete ihrer Mutter am Morgen vor ihrem Tod von einem Traum: "Da ging ein Krieg vor sich und ich war an der Front." So erzählt es Hajar Rostami, die sich über den amerikanischen Nachrichtensender CNN erstmals nach dem Tod ihrer Tochter an die Öffentlichkeit gewandt hat. "Ich hatte sie gebeten, sehr vorsichtig zu sein."

Mehr als vier Monate ist es her, dass sich die Augen der Welt auf den Iran richteten, wo die die Proteste gegen das offizielle Ergebnis der Präsidentschaftswahlen brutal niedergeschlagen wurden. Die 26-jährige Neda Agha-Soltan ist zum Symbol dieser Bewegung geworden. Am 20. Juni 2009 wurde die junge Frau nach einer Protestkundgebung mitten auf der Straße erschossen. In den Augen der iranischen Oppositionellen ist Neda eine Märtyrerin, eine Frau, die für Freiheit und Vaterland starb.

Weit über die Grenzen des Iran hinaus steht ihr Gesicht für den Mut der Verzweiflung, mit dem das iranische Volk den Repressionen seines Regimes trotzt. Ihre Geschichte zeugt von der willkürlichen Gewalt gegen friedliche Bürger, mit der Präsident Mahmud Ahmadinedschad und die Mullahs ihre Macht zu erhalten suchen.

Tiefer Schmerz

In einem Telefon-Interview erzählte Nedas Mutter den CNN-Reportern in ihrer Muttersprache Farsi vom Leid ihrer Familie. "Dieser Schmerz wird niemals aufhören", sagte Hajar Rostami mit leiser und freundlicher Stimme. Zugleich wollte sie sich für die weltweite Anteilnahme bedanken: "Ich weiß gar nicht, wie ich all den Menschen danken soll. Deshalb bitte ich Sie, finden Sie die richtigen Worte für mich!", wandte sich die Frau an die Reporter. "Ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr uns das geholfen hat."

Am Tag als Neda starb, waren die Unruhen auf Teherans Straßen besonders intensiv. Immer wieder kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Demonstranten einerseits und den Sicherheitskräften und den Freiwilligen Ordnungshütern, den militanten Basidsch-Milizen, andererseits. Die Demonstranten kamen spontan auf bestimmen Straßen und Plätzen zusammen. Wenn die Sicherheitskräfte und Milizen anrückten, löste sich die Menschenmenge auf, um kurz darauf wieder in einer Parallelstraße zusammenzufinden.

"Mach dir keine Sorgen"

Neda nahm gemeinsam mit ihrem Musiklehrer an den Protesten teil. Immer wieder rief sie ihre Mutter zu Hause an, die an diesem Tag entschieden hatte, zu Hause zu bleiben, und hielt sie auf dem Laufenden: "Mama, überall gibt es Zusammenstöße! Überall sind die Polizisten und Milizen." Die Luft war erfüllt von Tränengas, Neda wollte zur nächsten Klinik, um sich die Augen auswaschen zu lassen. "Meine Augen brennen furchtbar", rief sie in ihr Handy.

Zwanzig Minuten später rief Neda wieder an, erinnert sich ihre Mutter: "Sie sagte, sie sei jetzt auf dem Heimweg. Ich solle mir keine Sorgen machen." In ihren blauen Jeans, dem Schwarzen Sweatshirt und den weißen Turnschuhen lief sie zu ihrem Auto, das in der Nähe geparkt war. "Es ist ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass irgendetwas anders laufen könnte", sagt Hajar Rostami.

"Lehrer, ich brenne"

Doch es kommt alles anders: Eine einzige Kugel trifft Neda in die Brust. Die Frau bricht zusammen, fällt auf den Boden - und stirbt. Über den ganzen Globus verfolgen Menschen im Internet ihre letzten Sekunden. Die Kameras anderer Protestteilnehmer halten drauf: ihr Gesicht, das Blut, die erstarrenden Augen. Ihr weinender Lehrer, der über ihr kniet.

Nedas Mutter hat das Video zunächst nicht gesehen. Mit ihren Verwandten zog sie in die Wohnung von Nedas großer Schwester. Hier ist genug Platz für die traditionelle, siebentägige Trauerzeremonie. Nach drei oder vier Tagen erzählt ihr jemand von den Aufnahmen. "Als ich heimkam, habe ich mir das Video angesehen", berichtet die Frau den CNN-Reportern. "Es hat so sehr weh getan. Es war so schmerzhaft, dass ich es nie wieder bis zum Ende gesehen habe."

"Der Moment, in dem sie ihr Leben gibt, der Moment, in dem das Leben ihren Körper verletzt …Es tut so sehr weh." Vor allem schmerzt sie der Anblick von Nedas weit aufgerissenen Augen: "Jeden Morgen wache ich mit diesem Bild auf. Jeden Abend gehe ich mit diesem Bild zu Bett."

"Was mich am meisten erschüttert", erzählt Hajar Rostami weiter, "ist der Moment, in dem Neda erschossen wird. Neda war immer so eine tapfere Persönlichkeit. Schon in ihrer Kindheit war sie mutig und furchtlos. In dem Moment, als sie erschossen wird, das konnte ich in dem Video erkennen, kann sie es gar nicht glauben. Sie kann nicht fassen, dass sie eine Kugel abgekommen hat. Sie schaut an ihrem Körper herunter und als Neda sieht, dass sie getroffen wurde, macht sie ein paar wenige Schritte rückwärts und fällt. Das einzige was sie noch hervorbrachte, war: 'Lehrer, ich brenne'. Die Menschen sagen, sie sei innerhalb von 44 Sekunden verstorben."

Einmal ist die Familie zum Ort gefahren, an dem Neda verstarb. Sie wollten den Weg, den Neda am Tag ihres Todes genommen hatte, nachvollziehen. "Es waren nur noch 26 Schritte bis zu ihrem Auto."

Mitfühlend und fürsorglich

Hajar Rostami erinnert sich voller Liebe zurück an ihre Tochter: "Schon als Kind war sie immer sehr aufgeregt und hatte auf alles eine Antwort. Sie hatte einen guten Charakter, war immer freundlich. Vor allem war sie sehr mitfühlend und fürsorglich." Neda war von ihrem Mann geschieden, was die Suche nach einem Arbeitsplatz sehr schwierig machte. "Wenn sie mal ein Bewerbungsgespräch hatte, wurde sie sofort schief angeschaut, kaum dass sie ihre Bewerbungsunterlagen ausgefüllt hatte", erinnert sie sich an diese schwierige Zeit. Aber: "Sie war die Art von Mädchen, das sich niemals einer Gewalt unterordnen würde."

Neda entschied zu Hause zu bleiben, teilte sich ein Zimmer mit ihrem Bruder. In ihrer Freizeit machte sie am liebsten Aerobic oder ging zum Sonnen ins Schwimmbad. Daheim spielte sie Musikinstrumente, Geige und Gitarre. Für ihren Bruder hatte sie kurz vor ihrem Tod ein Piano organisiert. Er sollte spielen lernen. "Wenn er jetzt abends von der Arbeit heimkommt, spielt er und singt in Nedas Andenken", erzählt die Mutter der beiden. "Das hält uns die Abende über am Leben."

Nedas Mörder ist immer noch auf freiem Fuß, doch ihre Mutter vertraut darauf, dass er eines Tages verhaftet und verurteilt wird: "Ich warte auf diesen Tag."

"Neda macht mich sehr stolz"

Hajar Rostami freut sich, dass die Menschen ihre Tochter nicht vergessen haben. "Die Leute auf der Straße grüßen mich noch immer, als wäre ihr Tod erst wenige Tage her." Nicht einmal der repressive Staat kann dieses Andenken zerstören. "Immer wieder schreiben die Menschen mit roter Tinte "Märtyrerin" auf ihren Grabstein. Die Behören machen es zwar jedes mal wieder weg, aber das nützt nichts. Neda macht mich sehr stolz."

Entgegen der iranischen Tradition hat die Familie nichts von Nedas Besitz weggegeben. Ihr Bett, der Schminktisch, die Fotos, alles steht noch immer unangerührt an seinem Platz. Der Grund ist, dass Neda ihrer Schwester im Traum erschien und sie bat, nichts wegzugeben.

Neda sagte: "Ich lebe."