"Hörst du das?", fragt meine Freundin Liat. "Das Knallen?" Wir sitzen abends in einem Restaurant in Tel Aviv-Jaffa. Die Luft ist seidig-warm, junge, entspannte Menschen essen, trinken Wein, lachen. Zwei Straßen weiter wird gekämpft. Palästinenser schlagen sich mit der Polizei, heißt es in den israelischen Onlinemedien, die wir auf den Mobiltelefonen schnell vergleichen. Als wir zurück in die Stadt laufen, ist Jaffa leer. Jaffa ist nie leer.
Eigentlich bringt der Oktober in Israel Abkühlung. Nach den heißen Sommermonaten, die dieses Jahr besonders heftig waren, gibt es den ersten Regen. 2015 im Oktober kann es gar nicht genug regnen: Die innenpolitische Situation ist so aufgeheizt wie schon lange nicht mehr. Die Angst vor einer dritten Intifada geht um, einem neuen konzertierten Aufstand der Palästinenser, wie Anfang der 90er und 2000er, als Hunderte Menschen getötet und Tausende verletzt wurden - auf beiden Seiten.
Vor ihren Kindern erschossen
Der anhaltende Streit um die Nutzung des Tempelbergs in Jerusalem eskaliert schon länger. Doch nachdem Palästinenserpräsident Abbas vor gut einer Woche vor der UN in New York vollmundig den Friedensprozess aufgekündigt hat, und Israels extrem rechte Regierung unter Benjamin Netanjahu unnachgiebig weiterhin Siedlungen in der Westbank baut und unterstützt, häufen sich schwere Angriffe. Junge Palästinenser liefern sich in Ost-Jerusalem und in der Westbank heftige Schlachten mit den Sicherheitskräften. Und immer wieder kommt es zu tödlichen Anschlägen meist einzelner Täter: Vor einer Woche wurde ein Siedler-Ehepaar im Norden der Westbank in seinem Auto, die vier Kinder auf Rücksitz, erschossen. Am Wochenende wurden in Jerusalem vier Israelis mit Messern angegriffen, zwei starben. Bei folgenden Festnahmeaktionen und Angriffen auf die israelischen Sicherheitskräfte in der Westbank wurden mindestens zwei Palästinenser getötet und rund 30 verletzt.
Die radikalislamische Hamas lobt die Mörder, während Netanjahu "besonders hartes Vorgehen" verkündet, die Armee in die Westbank schickt und die Häuser der Attentäter zerstören lässt. Jerusalem ist seit dem Wochenende für Palästinenser, die nicht in der Stadt wohnen, gesperrt - und damit auch der Tempelberg.
Sieben Anschläge in zwei Tagen
Was alles nicht geholfen hat, denn allein seit Mittwoch hat es sieben weitere Anschläge im ganzen Land gegeben. Auch mitten im Tel Aviv, vor dem beliebten Einkaufszentrum Azrieli, wo ein Mann mit einem Schraubenzieher fünf Menschen attackierte und eine junge Soldatin schwer verletzte. Er wurde von einem hinzukommenden Soldaten erschossen. Auch in Afula, Haifa und Kiryat Arba gab es Angriffe. Sowohl Netanjahu als auch Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas haben zur Gewaltfreiheit aufgerufen.
Angeblich kursieren unter jungen Palästinensern via Facebook Aufrufe, Israelis anzugreifen. Die Analysten sind sich uneinig, ob der sogenannte islamische Staat an Einfluss gewonnen habe, oder ob die Frustration unter den jungen Menschen, die keinerlei Zukunftsperspektive haben, zu groß geworden sei. Es sind definitiv Selbstmordaktionen, denn die Angreifer werden häufig erschossen.
Dem "Tag des Terrors" folgt der "Tag der Wut"
Einen kleinen, aber positiven Schritt zur Deeskalation machte Netanjahu am Donnerstag, als er allen Mitgliedern des israelischen Parlaments, der Knesset, das Betreten des Tempelbergs untersagte. 2000 hatte Ariel Sharons provokanter Besuch der für Muslime und Juden heiligen Stätte die zweite Intifada ausgelöst. Einen lange geplanten Deutschlandbesuch hat Israels Premier wegen der Lage im eigenen Land kurzfristig abgesagt. In einer Pressekonferenz am Donnerstagabend rief er Israels Parteien zur Einigkeit im Kampf gegen den Terrorismus auf. Auch aus eigenen Reihen wird Netanjahu, der mit dünner Mehrheit regiert, Druck gemacht.
Donnerstagnacht ist die israelische Polizei in Jerusalem gegen jüdische Rechtsextremisten (vor allem vom Fussballclub Beitar Jerusalem) vorgegangen, die Araber angreifen wollten. Derweil bereitet sich die Armee auf den "Tag der Wut" vor, den palästinensische Extremisten nach dem "Tag des Terrors" für Freitag ausgerufen haben. Die Befürchtung ist, dass es Tage werden.