Israel Wie Netanjahu im Schatten des 7. Oktober aus Israel ein anderes Land macht

Die Lage in Nahost eskaliert immer weiter. Doch mit jedem Angriff wird Benjamin Netanjahu im eigenen Land beliebter. Wie kann das sein? 
Ein Mann schaut auf die Schäden eines israelischen Luftangriffs in Choueifat
Loch statt Haus: Israels Angriffe pulverisierten im Süden Beiruts ganze Wohnblöcke
© WAEL HAMZEH / EPA

Die Rede, mit der Joe Biden den Krieg im Nahen Osten beenden wollte, lag im Frühjahr bereit. Sein Verhältnis zu Benjamin Netanjahu war da längst auf einem Tiefpunkt angekommen. Biden sah den israelischen Premier als Hindernis auf dem Weg zu einer Beruhigung der Lage. Mehrmals hatte Netanjahu amerikanische Initiativen zur Deeskalation im Gazastreifen ausgehebelt. Bei Telefonaten zwischen ihm und Biden war es laut geworden. Wochenlang hatten sie nicht miteinander gesprochen.

Doch nun, Ende Mai, wollte der US-Präsident sich direkt ans israelische Volk wenden, als väterlicher Freund. Das Redemanuskript skizzierte zwei Bilder von Israels Zukunft. Entweder: endloser Krieg im Gazastreifen, Gewalt im Westjordanland, eine wiedererstarkende Hamas, wachsende Gefahr eines regionalen Flächenbrands und zunehmende internationale Isolation Israels. Oder: ein starkes, prosperierendes Israel in Frieden mit seinen Nachbarn, unterstützt vom Westen und neuen Bündnispartnern in Nahost.

Integration oder Isolation? Vor diese Wahl wollte Biden Israels Öffentlichkeit stellen, um sie für einen Waffenstillstand und einen Austausch der Geiseln zu gewinnen. Und Netanjahu sollte vor vollendeten Tatsachen stehen.

Ob der Plan aufgegangen wäre? Die Welt wird es nicht erfahren. Denn das Manuskript verschwand in einer Schublade, nachdem Netanjahu Biden in letzter Minute mit einer eigenen Geisel-Deal-Initiative zuvorkam. Monate später enthüllte die "Times of Israel" den Inhalt der Rede, die der US-Präsident nie gehalten hatte.

Bibi, der Manipulator

Eine verpasste Chance für den Frieden? 

Zunichtegemacht von Bibi, dem Manipulator, der Joe Biden ein ums andere Mal ins Leere laufen ließ, wie auch vergangene Woche, als er den Befehl zur Ermordung von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah gab – genau in dem Moment, als die USA und Frankreich eine Gefechtspause im Libanon erreichen wollten? Wie erneut am Montagabend, als Netanjahus Kabinett der Armee das Go zu einer Bodenoffensive im nördlichen Nachbarland gab – und der angeblich mächtigste Mann im Weißen Haus nur noch hinterherrufen konnte. "Mir ist erst wohl, wenn sie damit wieder aufhören." 

Der Eindruck drängt sich auf, wenn man an all die Betroffenen der Gewalt denkt, die mit dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ihren Anfang nahm: auf der einen Seite die 1139 Opfer der Hamas-Pogrome, die traumatisierten Überlebenden des Überfalls, die Angehörigen der Geiseln und der mehr als 700 bislang gefallenen Soldaten. Auf der anderen Seite die 17 000 Kriegswaisen im Gazastreifen, die Angehörigen der 15 000 bei israelischen Angriffen getöteten Kinder, die Hungernden, die Verletzten. Und nun auch noch das Elend im Libanon, wo binnen der vergangenen zwie Wochen über 1000 starben und mehr als eine Million Menschen aus ihren Häusern fliehen mussten.

Und doch: Die Vorstellung, dieser Krieg wäre längst zu Ende, wenn nur Netanjahu und seine rechtsextremen Partner nicht wären, trügt.

Denn sie verkennt, wie dramatisch der 7. Oktober 2023 Israel verändert hat. Und es weiter tut.

Israel, das ist heute ein traumatisiertes Land, in dem eine skrupellose Minderheit die Ängste, die der Hamas-Terror bei einer Mehrheit geschürt hat, zum eigenen Vorteil zu nutzen sucht. Während Bomben auf Gaza fallen, schippern radikale Siedler auf einem Ausflugsboot vor der Küste, um einen Blick auf das Gebiet zu erhaschen, das sie sich anzueignen planen. Im Windschatten des Krieges hat Israel dieses Jahr mehr Fläche im besetzten Westjordanland für den Siedlungsausbau konfisziert als in den 25 Jahren zuvor zusammen. Die Siedler dort stellen kaum mehr als fünf Prozent von Israels Bevölkerung, doch ihr Einfluss ist überproportional hoch, vor allem, weil Netanjahu ihre Vertreter an der Macht beteiligt hat, um seine eigene abzusichern.

"Der Iran hat einen Fehler gemacht und wird dafür bezahlen"

Doch selbst ein Regierungswechsel würde wohl kaum Veränderung bringen. Denn Umfragen zeigen: Das Gefühl der existenziellen Bedrohung hat auch das Vertrauen vieler Israelis in ihre demokratischen Institutionen erschüttert. Der Krieg, gleich, wie überlegen Israel ihn führt, scheint daran wenig zu ändern. "Ich habe nicht den Eindruck, dass die Menschen sich heute sicherer fühlen", sagt die israelische Meinungsforscherin Dahlia Scheindlin. "Es wird Jahre dauern, bis wir das ganze Ausmaß dessen ermessen können, was der 7. Oktober bei uns angerichtet hat."

Auch ein Jahr danach zieht eine Mehrheit der Menschen aus der Tragödie den Schluss, Israel müsse weiterkämpfen, je ungehemmter, desto besser. Dass der Iran ihr Land nun zum zweiten Mal binnen eines halben Jahres direkt und massiv mit ballistischen Rakteten angegriffen hat, dürfte sie in dieser Überzeugung nur bestärken. Und Netanjahu, der erledigt schien, weil er als Premier das Staatsversagen vom 7. Oktober politisch zu verantworten hat, kann seine Umfragewerte mit jeder Eskalation weiter steigern. 

Warum sollte er nun, nach Israels drastischen Luftschlägen gegen die Hisbollah, die jemenitische Huthi-Miliz und Stellungen der iranischen Revolutionsgarden in Syrien, die Waffen schweigen lassen? "Der Iran hat einen großen Fehler gemacht, und er wird dafür bezahlen", sagte Netanjahu am Dienstagabend und stellte einen direkten militärischen Gegenschlag Israels auf Iran in Aussicht. Teheran wiederum hat gedroht, Ölförderanlagen im gesamten Nahen Osten anzugreifen, falls Israel Irans Raffinerien oder Atomanlagen angreift. 

Die Spirale der Gewalt im Nahen Osten, sie scheint kaum noch zu stoppen. Weil alle Akteure in der Logik der Eskalation gefangen sind.

Im Krieg entscheidet sich, wer künftig in Israel das Sagen hat

Je länger der Krieg dauert, desto mehr verschiebt er außerdem das Kräfteverhältnis zwischen der alten, säkularen Elite des Israels und den Menschen aus Peripherie jenseits von Tel Aviv, Haifa und Jerusalem, die sich seit Jahrzehnten benachteiligt fühlen. Viele, aber nicht alle von ihnen gehören zum nationalreligiösen Spektrum, das der Siedlerbewegung nahesteht. Diese Israelis sind Netanjahus treueste Anhänger. "Ähnlich wie Donald Trump ist ihm das Kunststück gelungen, sich als Anwalt der Underdogs auszugeben, obwohl er selbst Spross jener alten Elite ist, die sie verachten," sagt Netanjahu-Biografin Mazal Mualem.

Nirgendwo ist die wachsende Macht dieses anderen Israels so offenkundig wie in der Armee. In vielen Eliteeinheiten, die früher von Säkularen aus der Kibbuz-Bewegung geprägt waren, stellen sie heute die Mehrheit. Unter normalen Rekruten schon lange. Der Krieg beschleunigt den Aufstieg der Nationalreligiösen in der Truppe, weil überproportional viele der Gefallenen aus ihren Reihen stammen.

Undenkbar wäre heute eine Aktion wie der Protest der 200 Kampfpiloten, die noch im März 2023 wegen der von der Regierung initiierten Justizreform den Dienst quittierten. Allein beim 69. Luftwaffen-Geschwader erschienen 37 von 40 Piloten nicht auf ihrer Basis, um Israels "Marsch in die Diktatur" unter Netanjahu anzuprangern. Während das liberale Lager sie noch feierte, galten sie im Großteil der Armee schon damals als arrogant. Vergangene Woche führte genau diese Einheit den Befehl des Premiers zum Angriff auf Nasrallah aus.

"Frieden? Ist auf Jahrzehnte hinaus unmöglich"

"Was wir seit einem Jahr erleben, ist ein Ringen um Hegemonie", sagt Gershon Hacohen, pensionierter israelischer General, im Gespräch mit dem stern. In den Kampfeinsätzen in Gaza und im Libanon entscheidet sich auch, wer im Land das Sagen hat, wenn der Krieg einmal zu Ende ist. Schon jetzt zeigt sich: Der Raum für Protest wird enger. Auch weil die Mehrheit derer, die vom Schlachtfeld heimkehren, Ruhe will, keine Demonstrationen. Diese Erfahrung machen gerade die Angehörigen der verbliebenen 101 Hamas-Geiseln, zu deren allabendlichen Kundgebungen in Tel Aviv meist nur noch ein Häufchen Unterstützer kommt.

So drohen alle Rufe nach Mäßigung bis auf Weiteres zu verhallen in diesem Land, das entschlossen ist, sein Heil im Kampf zu suchen, ohne zu wissen, wie ein Sieg aussehen könnte. Derweil schafft seine rücksichtlose Kriegsführung Israel eine Generation neuer Feinde.

"Frieden? Halte ich auf Jahrzehnte hinaus für unmöglich", sagt ein Gesprächspartner aus hohen israelischen Sicherheitskreisen, der jahrzehntelang für eine Zweistaatenlösung gekämpft hat. 

Wenn die Waffen irgendwann schweigen, wird Israel ein anderes Land sein als vor dem 7. Oktober. Von dem alten Israel hat Olaf Scholz einmal gesagt, es sei "ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien". Unklar, ob man das auch von dem neuen Israel noch sagen können wird.

Erschienen in stern 41/2024