Lakshmi Das kleine Göttermädchen !SPERRFRIST 22.11.2007!

Von Teja Fiedler
Die zweijährige Lakshmi kam mit vier Armen und vier Beinen auf die Welt - einer in Indien verehrten Göttin gleich. In einer 27-Stunden-Operation trennte nun ein Ärzteteam die überzähligen Gliedmaßen ab. Der stern besuchte die Familie im Krankenhaus und sprach mit dem Chefchirurgen

Es war Lakshmi irgendwie klar, was am nächsten Tag passieren sollte. Die Zweijährige, die noch nicht so richtig sprechen kann, machte mit den kleinen Ärmchen eine Bewegung, als wollte sie etwas kappen. "Sie hatte offensichtlich verstanden, dass wir von ihrem Körper einen Teil wegnehmen würden", sagt Dr. Sharan Patil vom Sparsh-Hospital im südindischen Bangalore. Den Teil, der wie eine missglückte, halb fertige Kopie ihrer selbst scheinbar untrennbar aus ihrem Unterleib herauswuchs. Der es ihr unmöglich machte, aufzustehen oder zu gehen. Der ihre Lebenserwartung auf wenige Jahre reduzieren würde und das geistig wache Kind beinahe als Wiedergeburt der Göttin Lakshmi in einem Tempel oder als makabre Jahrmarktsattraktion hätte enden lassen.

Die Göttin Lakshmi steht für Glück, Reichtum und Wohlbefinden

Wenige Tage vor Divali, dem indischen Lichterfest, war das Kind mit vier Armen und vier Beinen auf die Welt gekommen. Kein vollständig ausgebildeter siamesischer Zwilling, denn das andere Wesen, mit dem das Mädchen zusammengewachsen war, hatte keinen Kopf. Die Arme und Beine, die zu ihm gehörten, waren leblos. Was dort an Lakshmi hing, war kein zweiter Mensch, sondern nur ein monströser Auswuchs von Fleisch und Blut. Er hat denn auch nie einen Namen erhalten.

Die außergewöhnliche Geburt traf die Familie völlig unvorbereitet. In Ariara, einem Dorf in Bihar, dem ärmsten indischen Bundesstaat, macht man keinen Ultraschall. Dort entbindet eine Schwangere im Haus ihrer Eltern, und die Mutter fungiert als Hebamme. "Wir waren schon überrascht, aber nicht bestürzt", sagt Poonam, Lakshmis Mutter, "denn wir sahen die Geburt als göttliches Zeichen." Divali ist das Fest der Göttin Lakshmi, der Gemahlin des Gottes Vishnu. Sie steht für Glück, Reichtum und Wohlbefinden. Und sie wird meist mit vier Armen dargestellt. Also nannten Poonam und ihr Mann Shambu ihr Baby nach der Göttin.

Im Dörfchen Ariara, wo jeder jeden kennt, war die öffentliche Meinung zwiegespalten. Sollte man die kleine Lakshmi als Wiedergeburt der Göttin verehren, ihr vielleicht sogar einen Tempel bauen? Oder war die Geburt eines Kindes mit der doppelten Anzahl von Armen und Beinen eher ein Fluch, eine Strafe der Götter? Die Eltern verweigerten sich beiden Ansichten. Zwar glaubten sie - und glauben noch immer -, dass die Geburt ihres ungewöhnlichen Kindes mit Lakshmi zu tun hat. Noch dazu, weil der Großvater des Kindes sein Geld mit Götterstatuen aus Holz, Gips und Farbe für die vielen Hindu-Feste verdient, ganz besonders mit Statuen der Göttin Lakshmi. Doch sie wollten weder Verdammung noch Vergötterung für ihr Mädchen. Sie wollten eine gesunde, normale Lakshmi, so gesund und normal wie der vier Jahre ältere Bruder Mihilesh.

Statt der Ärzte zeigten Zirkusdirektoren Interesse

Shambu und Poonam sind arme Leute. Beide arbeiten als Tagelöhner auf dem Feld, manchmal findet Shambu in der 20 Kilometer entfernten Kreisstadt zusätzlich Arbeit auf dem Bau. Da ihr zweites Kind rund um die Uhr Pflege brauchte, blieb von jetzt an einer der beiden zu Hause. Das halbierte das knappe Familieneinkommen. Auch deswegen musste mit Lakshmi etwas geschehen. Durch die Vermittlung einer Sozialarbeiterin konnte die Familie in einer Klinik in Delhi vorstellig werden. Der Termin war kurz und ernüchternd. "Nichts zu machen, außerdem stirbt das Kind sowieso bald." Dafür zeigten Zirkusdirektoren und Jahrmarktschausteller brennendes Interesse an Lakshmi. "Sie wollten uns unsere Tochter abkaufen und sie als Attraktion auf Damashas vorführen." Damashas sind traditionelle Volksfeste. Die Eltern lehnten ab und verkrochen sich in ihrem Dorf. "Auch aus Angst, einer dieser Menschen könnte unser Kind entführen", sagt der Vater.

Im Sommer dieses Jahres hörte der Chirurg und Orthopäde Sharan Patil von dem Fall. Der 42-jährige Arzt fand das Schicksal der kleinen Lakshmi anrührend. In seiner Privatklinik verdient er normalerweise sein Geld mit künstlichen Hüftgelenken und Meniskusoperationen, finanziert aber mit einem Teil der Einnahmen die kostenlose Behandlung armer Patienten. Dr. Patil fuhr nach Ariara.

"Ein typisch indisches Dorf. Kein Strom, Wasser aus einem Brunnen, schilfgedeckte Hütten, in denen ganze Familien auf zehn Quadratmetern leben, ein Zufahrtsweg, der während der Regenzeit kaum passierbar ist. Aber andererseits Mobiltelefone und Fernseher, die mit Batterien funktionieren." So schildert der Mediziner seine Reise nach Bihar. Er war sofort von der Familie und dem Mädchen angetan. "Ich beschloss, Lakshmi zu operieren, wenn irgend möglich. Ob es gehen würde, konnte ich vor Ort nicht feststellen. Aber aus dem Bauch heraus sagte ich Ja."

Die Untersuchungen in Bangalore versprachen gute Chancen

Anfang Oktober traf die Familie in Bangalore ein. Für Lakshmi war es höchste Zeit. "Ihr Gesamtzustand war besorgniserregend. Der Parasitenzwilling hatte für sein Überleben alle Kraft aus Lakshmi gezogen. Sie war unterernährt, besaß nur die Hälfte der roten Blutkörperchen eines gesunden Kindes. Und sie hatte Fieberschübe, hervorgerufen durch fortwährende Infektionen einer wund gelegenen Stelle. Die Kleine konnte sich ja seit der Geburt nie richtig bewegen", sagt der Arzt. "Allzu lange hätte sie unter diesen Umständen wohl nicht mehr überlebt."

Untersuchungen bestätigten das Bauchgefühl von Dr. Patil: Für Lakshmi gab es eine gute Chance, von ihrem lebensbedrohenden Anhängsel befreit zu werden. "Wir hatten so etwas als Ganzes zwar noch nie gemacht, doch jeden der Einzelschritte beherrschte unser Team", erklärt der Chirurg. Ein ähnlicher, wenn auch viel einfacherer Eingriff zwei Monate zuvor steigerte die Zuversicht der Operateure: Da hatte man einem neunjährigen Jungen ein Bein und verkümmerte Genitalien wegoperiert, die durch eine Laune der Natur direkt aus dem Rücken herausgewachsen waren.

stiftung stern

Sie können spenden für die weitere Versorgung Lakshmis sowie die Verbesserung der medizinischen Infrastruktur in den armen Gegenden Indiens unter dem Stichwort Lakshmi, Stiftung Stern, Konto 46 995 00, Deutsche Bank, BLZ 200 700 00

Einen Monat lang päppelte die Klinik das Mädchen auf. Am 6. November - wieder kurz vor Divali - ging dann ein 36-köpfiges Team an die Arbeit. 40 Stunden waren vorgesehen, alles lief glatter als gedacht, nach 27 Stunden war der Eingriff beendet. Die Ärzte hatten den Teil der gemeinsamen Wirbelsäule gekappt, der dem Parasitenzwilling gehörte. Sie hatten eine Niere von Lakshmi, die in den falschen Körper gewandert war, in die Bauchhöhle des Mädchens zurückverlegt. Hatten einen der beiden vorhandenen Darmausgänge verschlossen und die Geschlechtsorgane von Lakshmi von der linken Körperseite, an die sie der Parasitenzwilling abgedrängt hatte, zurück in die Mitte verlegt. Sie hatten ihren Beckengürtel rekonstruiert. Und schließlich hatten sie den rudimentären Torso mit seinen zwei Armen und Beinen ein für alle Mal vom Körper Lakshmis getrennt.

Da fehlt doch etwas

"So wie es jetzt auss ieht, wird sie ein normales Leben führen können", sagte Patil am vergangenen Sonntag. Ihre Beine, derzeit noch in Gips, müssten natürlich noch das Laufen lernen. Und wahrscheinlich stünden ihr noch Operationen an den Füßen bevor, die etwas deformiert seien. "Allerdings ist zu befürchten, dass sie nie Mutter werden kann. Ihre Genitalien scheinen ziemlich schwach entwickelt."

Zwei Tage nach der Operation war Lakshmi wieder bei Bewusstsein. "Die Geburt unserer Tochter war kurz vor Divali. Und jetzt auch ihre Operation. Da hatte die Göttin ihre Hand im Spiel", meinten die dankbaren Eltern. Aus aller Welt treffen seither Glückwünsche für das Mädchen und das Ärzteteam des Dr. Patil ein. "Dear Doctor, Sie müssen wahrhaftig ein von Gott gesandter Engel sein", schrieb etwa eine Frau aus Kansas. Kritiker werfen dem gottgesandten Engel einen Hang zur Publicity vor. "Sollen sie doch", sagt der Arzt lächelnd, "wir haben der Welt bewiesen, dass indische Ärzte ohne ausländische Hilfe zu einer bisher nicht dagewesenen Operation fähig sind." Und die kleine Lakshmi? Die schaute sehr verwirrt und erstaunt an sich hinunter, als sie die Augen wieder aufmachte. Da fehlte doch etwas.

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