Herr Makris, hat das Corona-Virus Europas größtes Flüchtlingslager schon erreicht?
Nein, soweit wir wissen nicht. Stand letzte Nacht gibt es in Griechenland bisher 387 bestätigte Fälle. Hier auf der Insel Lesbos hatten wir nur am 9. März eine Frau, die sich infiziert hatte. Sie lebte in einem Dorf 25 Kilometer vom Camp entfernt und kam gerade aus dem Ausland.
Waren Sie besorgt, als Sie davon erfuhren?
Natürlich. Denn falls das Virus das Camp erreicht, könnte es dramatisch werden. Wir glauben, dass es sich im Lager wahnsinnig schnell verbreiten würde. Außerdem verhindern die Lebensbedingungen im Camp, darauf richtig zu reagieren. Sie müssen sich klar machen, dass in Moria unglaublich viele Menschen auf kleinstem Raum zusammenleben und es einen Mangel an Sanitäranlagen gibt. Insofern wäre es fast unmöglich, das Virus einzugrenzen.
Könnte man infizierten Menschen in so einem Fall überhaupt helfen?
Menschen, die ernsthaft erkrankt sind, können nur in Krankenhäusern behandelt werden. Es gibt auf Lesbos zwar eine Klinik, aber deren Kapazität ist sehr gering. Entsprechend groß ist unsere Angst. Das Gesundheitssystem hier wäre vollkommen überwältigt. Die Situation ist definitiv gefährlich.
Was muss passieren?
Wir fordern von der Politik, dass sie sich der Situation stellt. Wir müssen die Menschen aus dem Camp evakuieren und eine angemessene Unterbringung für sie finden. Beginnen müssten wir mit den am stärksten gefährdeten Gruppen.
Wer wäre das?
Im Fall von Corona sind das vor allem Ältere und Menschen mit Vorerkrankung. Aber es gibt weitere Krankheiten, die im Camp grassieren und die wir nicht vergessen dürfen. Wir haben zum Beispiel immer wieder vor Hirnhautentzündungen gewarnt und darauf gedrängt, dass die Kinder hier geimpft werden. Leider muss man sagen, dass sich unter den Verhältnissen, unter denen die Menschen hier in Moria leben, viele Krankheiten rasend schnell ausbreiten.
Ist Corona in diesem Fall vielleicht sogar eine Chance, damit wirklich etwas passiert?
Wir müssen abwarten. Bislang haben wir keine Veränderungen gesehen und wir fordern diese Maßnahmen schon sehr lange. Doch es ist natürlich auch klar, dass wir nicht länger warten können. Wir sind sehr besorgt.

Wie muss man sich die Situation im Camp momentan vorstellen?
Moria wurde 2016 für knapp 3000 Menschen gebaut. Seitdem ist es exponentiell gewachsen. Wir haben derzeit 20.000 Flüchtlinge im und um das Lager herum. Überall stehen kleine Sommerzelte, in denen ganze Familien oder teilweise bis zu sechs Personen hausen. In großen Teilen des Camps haben Tausende keine Toiletten, Duschen oder Strom. Es gibt Hochrechnungen, wonach auf eine Toilette derzeit 170 Menschen kommen. Und das ist nur die Hygienesituation.
Am Montag ist im Lager erneut ein Feuer ausgebrochen. Dabei kam ein Kind ums Leben. Warum passieren diese Dinge immer wieder?
Es ist so, wie ich bereits sagte. Die Situation im Camp kreiert viele Gefahren. Zum Beispiel beim Heizen oder durch Kurzschlüsse bei elektrischen Geräten. Noch ist zwar nicht geklärt, was das Feuer auslöste, aber die prekären Lebensbedingungen erhöhen auf jeden Fall die Wahrscheinlichkeit, dass solche schrecklichen Unfälle passieren. Wir fragen uns, wie viele solcher Dinge noch passieren müssen, bis die Leute verstehen: Leben unter diesen Umständen ist tödlich.
Vor zwei Wochen wurden auf Lesbos Unterstützer des Camps von rechten Gruppen angegriffen. Spitzt sich die Lage immer weiter zu?
Es stimmt. Es gab Angriffe und Straßenblockaden gegen Freiwillige. Einige Helfer wurden von diesen Leuten bedroht und ihre Autos wurden mit Steinen und Schlagstöcken attackiert. Ich habe die Videos gesehen. Wir haben im Moment eine Situation, in der viele Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) um ihre Sicherheit fürchten müssen. Das dürfen wir nicht akzeptieren.
Die Rechten fordern die Schließung des Camps und die Abschiebung der Flüchtlinge.
Ja, aber diese Leute haben kein Recht, offizielle Forderungen zu stellen. Sie versuchen, sich die Stimmungen zunutze zu machen, die sich gegen Migranten und gegen die NGOs wenden. Mit Gewalt gegen deren Mitarbeiter. Das verurteilen wir.
Neben diesen Übergriffen haben Hilfsorganisationen weltweit mit neuen Reiseeinschränkungen durch Corona zu kämpfen. Gibt es bei ihnen vor Ort schon personelle Engpässe?
Bislang nicht. Aber sollte es eine komplette Einstellung des Flugverkehrs geben, würde uns das natürlich auch treffen. Grundsätzlich versuchen wir aber, die offiziellen Stellen davon zu überzeugen, dass es notwendig ist, uns im Land zu haben. Schließlich sind wir da, um bei der Situation zu helfen.
Was bedeutet die Corona-Krise für die Arbeit von Hilfsorganisationen wie "Ärzte ohne Grenzen" im Allgemeinen?
Es ist eine große Herausforderung. Denn unsere Arbeit muss ja weitergehen. Wogegen wir uns allerdings gerade in Bezug auf die Situation in Griechenland wehren wollen, ist die Instrumentalisierung von Corona. Zum Beispiel in der Rhetorik der Migrationsbehörden. Corona ist nämlich kein Argument, um Asyl zu kontrollieren und unsere internationale Verantwortung für Asylsuchende aufzugeben.
Wie geht es also weiter?
Wir nehmen einen Tag nach dem nächsten. Oder besser: Eine Stunde nach der nächsten. Ich glaube, dass wir in zwei Wochen schon ein klareres Bild von der Situation in Griechenland haben. Dann sehen wir weiter.