"Ich will zu meiner Mama!" schluchzte die 13jährige Pradnya herzerweichend, als sie nach dem schweren Unfall allein in einem fremden Krankenhaus bei Mumbai aufwachte. Da wusste das an Hals und Wirbelsäule verletzte Mädchen noch nicht, dass seine Mutter eine von 16 Toten war, die in diesem Moment zur Einäscherung in ihre Dörfer zurückgebracht wurden. Stunden vorher waren sie alle noch Teil einer fröhlichen unbeschwerten Hochzeitsgesellschaft auf dem Weg zum Haus der Braut in Mumbai: 19 Personen - Männer, Frauen, Kind und Kegel - in einem völlig überladenen Achtsitzer-Jeep. Niemand war angeschnallt, nicht einmal der Fahrer. Nur Pradnya und zwei kleinere Kinder überlebten den Blutsonntag auf der Autobahn von Pune (Poona) nach Mumbai.
Horrorunfall lässt sich nicht rekonstruieren
Ganz genau wird sich der Horrorunfall auf Indiens Parade-Autobahn wohl nie rekonstruieren lassen. War Nitin Bhima, der 25jährige Fahrer, zur Unfallzeit morgens um vier Uhr knapp vierzig Kilometer vor dem Ziel eingeschlafen und dann mit Vollgas auf den Sattelschlepper vor ihm gerast? Die Tachonadel des Trax Jeeps war immerhin auf 130 Stundenkilometer und damit fünfzig über dem Speedlimit eingefroren. Wieso merkte der Lastwagenfahrer nicht, dass er das Unfallvehikel mit den Toten, Sterbenden und Schwerverletzten noch sieben Kilometer auf der Achse mitschleifte?
Beging er Fahrerflucht aus Angst, von der Polizei ins Gefängnis gesteckt oder von Angehörigen der Unfallopfer zusammengeschlagen zu werden? Minuten später kam noch ein Geländewagen mit Hochzeitsgästen vom Lande vorbei. Als Fahrer Vijay Jagtap den zertrümmerten Jeep seines Freundes in der Hinterachse des Lastwagens verkeilt sah, zwang er den Sattelschlepperfahrer, der anfangs nicht reagierte, mit einem gewagten Manöver zur Vollbremsung. Dann zogen die wütenden Mitfahrer den Mann aus dem Führerhaus und schlugen ihn krankenhausreif. Erst dann widmeten sie sich den Toten und Verletzten.
Archaische Regeln für moderne Straßen
Wildwest auf Indiens Highways. Es war der schlimmste Unfall auf der sechsspurigen Autobahn, die vor fünf Jahren eingeweiht worden ist und das Prunkstück von Fortschritt und Modernität sein sollte. Auf 93 Kilometern verbindet der Highway die Finanzmetropole Mumbai mit der aufstrebenden Industriestadt Pune, die früher synonym für den Ashram des Sexgurus Bhagwan und seiner halbnackten westlichen Jünger war und heute als beliebter Standort für Niederlassungen von Volkswagen, Mercedes, Bosch und vielen anderen gilt. Doch was nützt eine moderne Straße, wenn nur archaische Regeln gelten?
"Vom Highway zur Hölle," titelten zwei Reporter der Hindustan Times und zeigten Belegfotos des ganz alltäglichen Verkehrs-Wahnsinn: von Lastern, die im Tunnel parken, um vor der heißen Mittagssonne geschützt Ziegelsteine im Halbdunkeln umzuladen oder Jeeps, deren Fahrer mitten in der Kurve parken, um Reifen zu wechseln oder zu pinkeln. Von Dörflern mit Turban, die barfuß die Autobahn überqueren, um zu ihren jenseitigen Feldern zu gelangen, von Mopeds und Dreirad-Rikschas, die sich trotz Fahrverbots auf der Autobahn auch noch Wettrennen liefern. Von Autos, die mal eben schnell auf dem Mittelstreifen wenden. Dass Sicherheitsgurte in Indien wie bei uns Babyschuhchen, Heiligenbildchen oder Dufttannenbäume von den Holmen baumeln, schien den Reportern schon gar nicht erwähnenswert. Die Autobahnpolizei scheint ohnehin keine Rolle zu spielen.
"Ist doch eh' alles Schicksal"
Wehe, wenn es dunkel wird! Als ADAC-Gläubige und Anhängerin der Straßenverkehrsordnung sind Indiens Highways dann purer Horror für mich, den ich so gut es geht vermeide. "Stell dich nicht so an!" oder " Ist doch eh' alles Schicksal," sagen mir indische Fotografenkollegen, wenn wir bei Dunkelheit noch unterwegs sein müssen. Nachts sind die Raser und Wahnsinnsfahrer unter sich, sind bekiffte oder mit Schnaps abgefüllte Lastwagenfahrer die absoluten Herren der Landstraße. Geisterfahrer? Nicht einer, sondern viele waren es, die uns einmal auf dem Highway bei Nagpur, 500 Kilometer nördlich von Mumbai, auf der falschen Spur entgegenkamen.
Aus Sparsamkeit oder Schabernack wird oft nur mit Standlicht oder einfach ganz ohne jede Beleuchtung gefahren, kaputte Blinker werden durch einen winkenden Arm ersetzt. Nicht gesehen, wie der Laster plötzlich rückwärts auf der Überholspur rangiert? Pech gehabt. Vor der Kurve schnell noch überholt? Deshalb hat der Fahrer auf der Gegenfahrbahn ja fürsorglich gehupt, damit wir ihn wenigstens hören und über den sandigen Seitenstreifen ausweichen konnten. "Hier muss man nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Ohren fahren," hat mir ein alter Taxifahrer geraten, " die Landstraße fordert alle Sinne heraus." Sie fordert vor allem über 100.000 Verkehropfer jährlich - damit ist das Risiko eines tödlichen Verkehrsunfalls zwanzig Mal höher als in Deutschland.
Nach der Hochzeit füllt er die Totenscheine aus
Kurz nach dem tödlichen Unfall der Hochzeitsgäste auf dem Highway stand Brautvater Uttam Shere in Mumbai vor der schwersten Entscheidung seines Lebens. "Da war ich nun halb verrückt vor Trauer um meine Schwester, die auch im Todesauto gesessen hatte, andererseits fühlte ich die Verantwortung für das Glück meiner Tochter." Der Brautvater entschloss sich zu einer kurzen, feierlichen Hochzeitszeremonie und fuhr dann ins Krankenhaus, um die Totenscheine für seine Gäste, die nie ankamen, auszufüllen.