Während ganz Amerika noch unter Schock über den Angriff auf das Kapitol steht, wächst bei Wissenschaftlern die Sorge, dass mit den randalierenden Trump-Anhängern auch das Virus in das Gebäude eindringen konnte. Schließlich kam am Mittwoch in Washington all das zusammen, wovor Virologen und Epidemiologen das ganze letzte Jahr gewarnt hatten: Dichtgedrängte Menschen, die meisten ohne Maske – und im Verlauf des Angriffs sogar in geschlossenen Räumen.
Dies sei wahrscheinlich ein Superspreading-Event gewesen, "insbesondere vor dem Hintergrund der hochinfektiösen Varianten, die im Umlauf sind", sagte Dr. Joshua Barocas, Arzt für Infektionskrankheiten an der Boston University der "New York Times". Ohne die Möglichkeit von Social Distancing hätten drei verschiedene Gruppen eine lange Zeit drinnen verbracht: Die Krawallmacher, die Kapitol-Polizei und die Kongressmitglieder.
Eine Rekonstruktion in drei Akten.
Erster Akt: Der Mob ohne Maske
Donald Trump hat nicht das Kapitol gestürmt – sein Geist jedoch schon. Von Beginn an hat der Präsident die Pandemie heruntergespielt, auch nachdem er selbst an Covid-19 erkrankte und ins Krankenhaus musste. Trump schüttelte weiter Hände, veranstaltete große Rallys und trug bei seinen öffentlichen Auftritten nur selten eine Maske. Und seine treuen Anhänger, die dem Aufruf des Präsidenten in die Hauptstadt zu kommen nur zu gerne gefolgt sind, machen es ihrem schlechten Vorbild nach.
Fernsehbilder und Videos in den Sozialen Netzwerken zeigen grölende Trump-Supporter, dicht an dicht – die Mehrheit trägt keine Maske. "Menschen, die schreien, singen und sich dabei anstrengen – all das bietet dem Virus die Möglichkeit, sich zu verbreiten", sagte Dr. Anne Rimoin, Epidemiologin an der University of California der "New York Times". "Und das Virus nutzt diese Möglichkeiten."
Ein enormes Ansteckungsrisiko bergen allein der mehrstündige "Stop the Steal"-Marsch und die Menschentraube draußen vor dem Kapitol. Doch viel besorgniserregender als das. was im Freien vor sich ging, ist laut Experten, was danach im Inneren des Kapitols geschehen ist. Die Hunderten von Randalierern, die längere Zeit in überfüllten Räumen und Fluren herumbrüllten, könnten Dutzende von Menschen gleichzeitig infizieren, sagte Dr. Rimoin: "Das Risiko steigt in Innenräumen exponentiell an."
Zweiter Akt: Die eingesperrten Abgeordneten
Erst waren sie im Sitzungssaal mit geschlossenen Fenstern und Türen eingesperrt, dann wurden die rund 400 Abgeordneten, Mitarbeiter und Journalisten von den Sicherheitskräften durch die Gänge in einen Ausschussraum bugsiert. Dieser sei schnell überfüllt gewesen und hätte Social Distancing unmöglich gemacht, sagte die Abgeordnete Susan Wild aus Pennsylvania dem Fernsehsender "CBS".
Die Stimmung sei angespannt gewesen und die Leute hätten laut durcheinander gerufen. "Richtig wütend" sei sie aber auf diejenigen gewesen, die keine Maske getragen hätten, auch nachdem ihnen welche angeboten wurden, berichtete die Demokratin. Das wäre mindestens ein Dutzend gewesen.
Und der erste Corona-Fall ließ auch nicht lange auf sich warten. Am frühen Donnerstagmorgen twitterte der Abgeordnete Jake LaTurner aus Kansas, dass er positiv auf das Virus getestet worden sei. Der Republikaner hatte den Großteil des Mittwochs mit den anderen Kongressmitgliedern im Kapitol verbracht.
Dritter Akt: Nach dem Sturm ist vor dem Sturm
Viele Amerikaner atmeten erleichtert auf, als das Kapitol nach Stunden endlich gesichert war und die Trump-Anhänger von Einsatzkräften zurückgedrängt wurden. Einige Experten befürchten jedoch, dass die Randalierer, die nach Hause zurückkehren, neue Infektionsketten auslösen könnten, die möglicherweise nicht aufzuspüren sind. Die Fälle der Kongressabgeordneten könnten zwar eine Ahnung geben, wie schlimm es sei, aber "ich glaube nicht, dass wir das Ausmaß dieses Superspreading-Events kennen werden", sagte Dr. Barocas.
In den USA ist die Kontaktverfolgung der Infektionsketten insgesamt nicht sehr effektiv. Im Fall der Ausschreitungen in Washington kommt für die Gesundheitsämter erschwerend hinzu, dass viele der Trump-Supporter nicht aus der Hauptstadt, sondern aus dem ganzen Land angereist sind. Im vergangenen Sommer hatten die "Black Lives Matter"-Demonstrationen ähnliche Bedenken aufgeworfen. Nachforschungen hatten damals ergeben, dass die Proteste nicht zu Masseninfektionen geführt hatten. Im Gegensatz zu dem Mob im Kapitol, fanden die meisten Anti-Rassismus-Märschen jedoch komplett im Freien statt und eine Mehrheit der Teilnehmer trug Masken.
Der Angriff auf das Herz der amerikanischen Demokratie war am Mittwoch jedoch nicht die einzige bedrückende Nachricht. Am selben Tag kostete das Virus fast 4.000 Menschen das Leben – die höchste tägliche Zahl an Todesopfern seit Beginn der Pandemie. Wie der zukünftige Präsident Joe Biden auf den Punkt brachte: "Einer der dunkelsten Tage in der Geschichte unserer Nation".
Weitere Quellen: "The New York Times", "CBS"