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Pussy-Riot-Aktivistin Tolokonnikowa "Russland entwickelt sich immer mehr zu einem großen Straflager"

Für ihr "Punk-Gebet" wurde Nadja Tolokonnikowa zu zwei Jahren Haft in einem russischen Straflager verurteilt. Im stern-Interview spricht die Pussy-Riot-Aktivistin über das Leben danach und warum sie den Kampf gegen Putin nicht aufgibt.
Von Katja Gloger

Ein früher Vormittag in Los Angeles, wahrscheinlich scheint draußen die Sonne, ein Skype-Termin. Sie hat sich unter einem Plakat von Bernie Sanders niedergelassen, des demokratischen Bewerbers um die US-Präsidentschaftskandidatur. Sie unterstützt Sanders - Donald Trump hingegen findet sie "verantwortungslos und gefährlich", er betreibe "Junk-Politik": Politik als Junk Food.

Sie trägt, wie so oft, ein T-Shirt mit Botschaft: "No Excuses", lautet die heute, keine Entschuldigungen. Das Haar kurz, sie lächelt viel, kameraerfahren und scheu zugleich, eine schöne, junge Frau. Zweifellos ist Nadja Tolokonnikowa, 26, das bekannteste Gesicht der russischen Aktionskünstlerinnen von Pussy Riot. Bekannt wurden sie mit ihrem 40 Sekunden dauernden Auftritt in der Moskauer Kathedrale, dem "Punk-Gebet", in dem sie die Mutter Gottes darum baten, Russland von Putin zu befreien. Dafür wurden sie und ihre Pussy-Riot Mitstreiterin Marija Aljochina wegen "Rowdytums aus religiösem Hass" zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt. Das harte Urteil löste internationalen Protest aus - und machte sie weltberühmt. Nach ihrer Freilassung trafen sie Madonna und Hillary Clinton; sie spielten sich selbst in der Serie "House of Cards", in Deutschland wurde ihnen der Hannah-Arendt-Preis verliehen. Jetzt also Los Angeles, auch dort erkennt man Nadja Tolokonnikowa auf der Straße wieder. Leicht gereizt reagiert Tolokonnikowa auf die Frage, ob sie ein Star sei ...

Tolokonnikowa: Ich arbeite hier, sonst nichts. Ich nehme Musik auf, vielleicht auch ein Video, sonst nichts. Wir überlegen gerade, ob wir ein Lied mit obszönen Schimpfwörtern in verschiedenen Sprachen aufnehmen sollen.

Und warum Obszönitäten? Als ob es davon nicht schon genug gäbe.

Wir wollen etwas anderes: Wir wollen eine Art Bedienungsanleitung erstellen, ein kleines Wörterbuch. Wörter, die man benutzen kann, wenn man sich gegen sexuelle Anmache und gegen sexuelle Belästigung wehren muss. Wir nehmen es in fünf Sprachen auf.

Auch auf Deutsch?

Ja. Vielleicht haben Ihre Leser ja ein paar Worte für uns, die wir noch nicht kennen.

Aufsehen erregt haben Sie jüngst vor allem mit dem neuesten Pussy Riot-Video, rund zwei Millionen Abrufe hat es bereits. "Tschaika" heisst es, die Möwe. Es ist eine bitterböse Abrechnung mit Putins Russland. Das Video nimmt Bezug auf den investigativen Film des russischen Oppositionellen Alexej Nawalnyj über angeblich korrupt-kriminellen Geschäfte im engsten Familienkreis des russischen Generalstaatsanwalts Jurij Tschaika. 

Es war ein mutiger Film, er hat mich so entsetzt. All diese schrecklichen Dinge geschehen in meinem Land. Ich wollte irgendwie reagieren, auch mit Kunst, mit dem also, was wir am besten können. Innerhalb eines Tages haben wir dann das Lied aufgenommen, der Videodreh dauerte drei Tage.

Im Video geht es um Folter in russischen Straflagern, es geht um korrupte Amtsträger, die sich maßlos gierig bereichern, und über allem schwebt allmächtig ... der russische Präsident Wladimir Putin. Fast eine Dystopie.

Wir haben alles alleine gemacht, wir waren nur zu fünft. Wir haben in Moskauer Kellern gedreht, in denen es minus 15 Grad war.

Sie sagen, dass es ihnen dabei um die Darstellung eines "sowjetischen Faschismus" gegangen sei.

Weil sich in unserem Land so etwas wie ein neuer Faschismus entwickelt, es ist die Verschmelzung zweier politischer Kulturen. Obwohl die Sowjetunion ja gegen den Faschismus gekämpft hat, gegen Hitler, verschmelzen jetzt der alte sowjetische Patriotismus und die imperialen Ambitionen mit einer neuen nationalistischen Rhetorik über die angebliche "Bestimmung" und "Verteidigung" der russischen Nation, die mich an Hitler erinnert.

Aber seit der Annexion der Krim vor zwei Jahren ist - und bleibt - Wladimir Putin populär wie nie.

In Russland ist es anders als in Deutschland, so verstehe ich es zumindest: Die Deutschen haben sich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt; sie haben gelernt. Sie erinnern sich, auch wenn es schmerzhaft ist. Aber in Russland erinnern wir uns eben nicht an die Schrecken unserer eigenen, jüngeren Geschichte. Im Gegenteil: Wir rühmen Stalin. Putin spricht ständig von "Werten", die er angeblich verteidigt. Aber in Wahrheit zerstört er sie. So weiß niemand mehr, an was man noch glauben soll - wenn nicht an Putin. Die Menschen in Russland sind so müde, so erschöpft; und jetzt geht in der Wirtschaftskrise auch noch die ökonomische Stabilität der vergangenen Jahre verloren. Wie sollen sich da neue Werte herausbilden, an denen sich unsere Gesellschaft orientieren kann?

Was ist das also, Putins Russland?

Unter Putin entwickelt sich das Land immer mehr zu einem großen Straflager. Unsere Freiheiten werden immer kleiner, unsere Rechte immer weniger wert. Und dann die Annexion der Krim, der Krieg im Osten der Ukraine, der Abschuss des malaysischen Flugzeuges MH17. Diese Militarisierung des Denkens. Für mich war es anfangs so schmerzhaft, dass ich gar nicht wusste, was ich tun sollte

Mit feministisch-punkiger Aktionskunst wollte Pussy Riot die Gesellschaft wachrütteln.

Wir als Künstler haben anfangs geschwiegen. Es war, als ob wir vor unseren eigenen Gefühlen davonlaufen wollten. Es war vielleicht wie ein Rückzug in die kleinen Dinge. Ich habe mich dann wenigstens mit der "Zone des Rechts" beschäftigen können..

Nach Ihrer Entlassung aus der "Zone", wie man das Straflager auf russisch auch nennt, haben Sie diese NGO mit aufgebaut, die sich für die Rechte der mehr als 600.000 russischen Strafgefangenen einsetzt, dazu die journalistische Plattform "Media-Zona".

Wir sind dann von Straflager zu Straflager gefahren, auch dorthin, wo wir selbst gesessen haben.

Sie wurden bedroht, man sprühte Ihnen Desinfektionsmittel ins Gesicht, prügelte auf Ihre Kollegin Marija Aljochina ein. 

Wir wollten wenigstens etwas tun, irgendwie hilfreich sein. Päckchen für die gefangenen Frauen, Informationen über Gesetze, ihre Rechte.

Das russische Straflager ist mit westlichen Gefängnissen nicht zu vergleichen. Die "Zone" ist eine grausame Welt, mit ganz eigenen Gesetzen, eine Sklavenwelt, kalt und gefährlich.

Ja, der Einzelne soll vernichtet werden, nicht rehabilitiert. Das Lager ... immer noch träume ich davon; jede Woche träume ich vom Lager. Entweder geht es darum, dass ich im Lager sitze und überlege, wie ich überleben kann. Oder ich träume davon, dass meine Freunde und ich bald verhaftet werden.

Droht Ihnen erneute Verhaftung?

Es kann ja jederzeit passieren. Ich bemühe mich, nicht daran zu denken. Ich tue, was ich tue. Aber natürlich steckt die Angst in mir. Wer heute in Russland als Aktivist politisch aktiv ist, dem drohen Verhaftung, brutale Prügel oder Ermordung. Verhaftung ist im Vergleich zu den Alternativen dabei vielleicht noch nicht einmal das Schlechteste.

Wie haben Sie die beiden Jahre in der Strafkolonie verändert?

Es war ein Erwachsenwerden. Es fällt mir heute leichter, Menschen zu verstehen; auch mit denen zu sprechen, die mich nicht ausstehen können. Ich verstehe besser, dass jeder Mensch unendlich viel wert ist, jeder Einzelne. Ich verzeihe leichter. Ich habe verstanden, wie wertvoll jedes einzelne Wort ist. Dass jedes Wort zählt. Und vielleicht habe ich gelernt, was Toleranz bedeutet, echte Toleranz. Dass man bereit sein sollte, auch für die Freiheit derjenigen zu sterben, deren Ansichten man nicht teilt ...

... frei nach Voltaire, dem großen Philosophen und Aufklärer.

Ich möchte jedenfalls eine sanfte Kraft der Veränderung sein. Grobheit und Radikalismus gibt es genug, Putin beweist es uns jeden Tag.

Ihr erstes Buch aber heißt: "Anleitung zu einer Revolution". Ausgerechnet.

Weil es ein Buch für die Menschen außerhalb Russlands ist.

Und deswegen bislang nur auf Deutsch erschienen ist?

Der Titel ist eher ironisch gemeint, ein Titel für das westliche Establishment. Hier im Westen steht "Revolution" ja selbst auf dem Titelblatt von Modeheften. In Russland wissen wir aber, was Revolution wirklich bedeutet. Davon haben wir wirklich genug gehabt, so viel Blut und Terror jahrzehntelang.

Was bedeutet es also, eine sanfte Kraft zu sein?

Kultur. Kunst, Ausstellungen, neue Museen. Manchmal könnte es vielleicht sogar ein kleines Café mit Stil und einem kleinen Bücherstand drin sein. In vielen Städten gäbe es dann wenigstens einen öffentlichen Ort, an dem man sich gerne aufhalten würde.

Also keine Punk-Gebete mehr?

Doch, natürlich, symbolischer Radikalismus dieser Art ist weiterhin möglich. Diese Gesten tun niemandem weh, sie erniedrigen niemanden. Aber echten Radikalismus, gar Revolutionen brauchen wir in Russland nicht mehr. Echte Veränderungen brauchen ihre Zeit, sie müssen wachsen. Und ich bin bereit, zu warten.

Auftritte von Nadja Tolokonnikowa in Deutschland:

  • Sonntag, 13. März: LitCologne in Köln (WDR Funkhaus, Klaus-von-Bismarck-Saal, Wallraffplatz, 50667 Köln); Beginn: 19.30 Uhr
  • Montag, 14. März: Maxim Gorki-Theater in Berlin (Am Festungsgraben 2, 10117 Berlin); Beginn: 19.30 Uhr

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