Vor einiger Zeit schoss mich ein SUV von der Straße. Ein SUV ist eine Art gepanzerter Geländewagen, der einst für Waldarbeiter und Großwildjäger gedacht war, bis Amerikaner erkannten, dass sie SUV eigentlich auch in der Großstadt gebrauchen können, um die Schlaglöcher der Straßen zu vertiefen. SUV heißen ausgeschrieben Sports Utility Vehicles, sie haben etwa 150 PS und verbrauchen 25 Liter und können mit ihrem Kühler locker Elche von der Straße schieben. Oder Deutsche.
Die Fahrerin entschied sich für einen Deutschen
Die Fahrerin aus Boston entschied sich für einen Deutschen. Sie war auf einer einsamen, geraden Landstraße im Hinterland des Bundesstaates Maine unterwegs und fuhr frontal in mich hinein. Die Szene hatte etwas Surreales. Sie fuhr so gezielt in mich hinein, als sei sie auf Großwildjagd. Später sagte sie der Polizei, dass sie den Deutschen auf dem Fahrrad nicht gesehen habe und dass Fahrräder auf Straßen eigentlich nichts zu suchen hätten. Ich jedenfalls landete nach einem kurzen Flug einige Meter entfernt in einer Seitenstraße und merkte lange Zeit nichts mehr, und als ich wieder etwas merkte, begann eine jener sehr amerikanischen Geschichten, die Michael Moore gerade in seinem neuen Film "Sicko" erzählt.
Der Arzt in der Notaufnahme, ein Kriegsveteran mit ausrasiertem Nacken, sagte, dass der deutsche Fahrradhelm mir das Leben gerettet habe. Den Rest habe er besorgt, der Kriegsarzt. Er habe zwei Platten ins Bein gesetzt und ein paar Drähte und Schrauben und die 16 Knochenbrüche irgendwie wieder zusammen geflickt. Mit einer Kälte, die einen erschauern ließ, fügte er hinzu, dass es mit dem Sporttreiben nichts mehr werde in meinem Leben. Ich solle froh sein, eines Tages wieder gehen zu können.
"Der Zug nach New York braucht nur 10 Stunden
Ich stellte mich auf einige Monate im Krankenhaus ein, doch schon am folgenden Tag sagte der Kriegsarzt plötzlich: "Alles Bestens. Sie können gehen."
"Gehen? Wie gehen?" fragte ich verwundert. Wie soll ich nach Hause kommen?"
"Nehmen Sie doch den Zug nach New York, dann sind Sie in 10 Stunden da", sagte er.
Es klang wie: "Entspannen Sie sich erstmal. Machen sie sich ein paar nette Tage."
Neues aus Amerika
Wie kauft man beim Kaffeetrinken in Texas ein Maschinengewehr? Wie wird man vom Fahrradfahrer zum Millionär? Wie verteidigt man Gerhard Schröder gegen den Vorwurf der Prostitution? stern-Korrespondent Jan Christoph Wiechmann beschreibt in seiner wöchentlichen Kolumne "Neues aus Amerika" das manchmal sehr absurde Leben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Der Kriegsarzt setzte mich auf Morphium und ließ mich zwei Schritte auf Krücken machen und war außerordentlich zufrieden mit den Fortschritten. Erst als die russische Krankenschwester mich etwas später im Rollstuhl auf die Straße fuhr und ins Taxi legte, nahm ich meinen Mut zusammen und fragte, warum ich schon entlassen werde. Da blickte sie etwas mitleidig und sagte: "Ganz ehrlich, wir trauen Ihrer Krankenversicherung nicht. Sie hat so einen merkwürdigen Namen. Wir befürchten, dass wir keinen Cent sehen werden. So ist das eben in Amerika. It's all about money, honey."
Die BKK ist den Amis suspekt
Meine Versicherung hieß BKK und kam aus Itzehoe. Das war den Amerikanern suspekt. BKK. Betriebskrankenkasse. Das klang so ähnlich wie PKK. Oder KKK. Wenn US-Ärzte Zahlungsunfähigkeit wittern, schmeißen sie Patienten auf die Straße. Dann flicken sie die Patienten so weit zusammen, dass sie am Leben bleiben und setzen sie unter Drogen und sagen, dass alles Bestens sei.
Mehr als 43 Millionen Amerikaner geht es so. Sie haben keine Krankenversicherung. Sie sitzen zu Hause und hoffen, dass sie nicht krank werden. Und wenn sie krank werden, gehen sie nicht zum Arzt. Und wenn sie doch zum Arzt müssen, haben mehr als 40 Prozent dieser Menschen Probleme, die Rechnung zu bezahlen. 18.000 Amerikaner sterben jedes Jahr verfrüht, weil sie keine Versicherung haben. Die Säuglingssterblichkeit ist nach einer UN-Studie höher als die Malaysias. Aber das Durchschnittsgehalt eines Chefs der mächtigen Versicherungskonzerne beträgt 15 Millionen Dollar. Und dann kommt manchmal noch die deutsche Gesundheitsministerin auf Fortbildungsreise in die Vereinigten Staaten und besucht Tagungen mit Titeln wie: "Modell Amerika".
Ich schaffe es nur ein paar Kilometer weit
Ich schaffte es nicht bis nach New York, sondern nur ein paar Kilometer weiter in ein Hotel. Ich glaubte, ich müsste sterben vor Schmerzen und warf eine Menge der vom Kriegsarzt verschriebenen Pillen mit Namen Oxycontin ein. Sie rauben einem nicht nur die Schmerzen, sondern auch den Verstand und lassen einen weiße Leoparden beim Engtanz sehen und auf Abenteuerreise durchs Unterbewusstsein gehen. Sie sind inzwischen zu einer Art Lieblingsdroge in Hollywood geworden und sorgen für einen Run auf Entziehungskliniken und steigern das Bruttosozialprodukt wie sonst nur SUV und der Irakkrieg.
Schon am nächsten Tag rief mich im Hotel ein Mann mit einer dunklen, vertrauen erweckenden Stimme an. Er hatte die Telefonnummer in detektivischer Feinarbeit ausfindig gemacht. Der Mann sagte, dass dies ein interessanter Fall sei und er ihn als Anwalt gern übernehmen würde. Eine halbe Million Dollar als Schadenssumme müssten schon drin sein, zwei Drittel für mich und ein Drittel für ihn – also 170.000 Dollar. Der Anwalt hoffte auf das große Geschäft mit meinem Bein. Er hoffte auf das Jahresgehalt eines Ministers mit meinem zertrümmerten Bein. So machen Anwälte in Amerika ihr Geld. Sie leben von deutschen Beinen. Sie leben von SUV. Ich war noch im Halbkoma und legte auf.
Erst rief ein Anwalt an und dann noch einer und dann ...
Am selben Tag noch rief der nächste Anwalt an und am folgenden Tag der nächste. Sie hatten meinen Namen vom Sanitäter des Krankenwagens bekommen, der mit zehn Prozent an der Schadenssumme beteiligt ist. So machen Sanitäter in Amerika ihr Geld. Sie sammeln Deutsche von der Straße auf. Sie liefern sie an Anwälte und hoffen auf einen schweren körperlichen Schaden, am besten einen Schädelbasisbruch. Es gibt nichts Besseres für das amerikanische Bruttosozialprodukt als einen schönen Schädelbasisbruch nach einem SUV-Unfall.
Der dritte Anwalt bekam den Fall. Er war der Netteste am Telefon. Er fragte sogar, wie es mir geht. Er erwähnte eine Schadenssumme von einer Million Dollar, 650.000 Dollar für mich, der Rest für ihn. 16 Beinbrüche plus Gehirnerschütterung plus Knorpelschaden plus etwas Invalidenrente ergäben in Amerika eine Million Dollar. Er wiederholte den Betrag einige Male - eine Million Dollar. Ich sah mich schon in einem Landhaus am Meer.
Der nette Anwalt wollte die Schadenssumme von der Versicherung der Fahrerin einklagen, musste aber schnell feststellen, dass die Frau unterversichert war. Sie war nicht etwa bis zu einem Schaden von einer Million Dollar versichert, wie in Europa üblich, sondern nur bis zu 20.000 Dollar. Das sei keineswegs außergewöhnlich in Amerika, erklärte der Anwalt. 60 Prozent der Autofahrer in Maine hätten überhaupt keine oder nur eine geringfügige Versicherung. Sie fahren Leute tot und bezahlen nichts. Man kann sie verklagen, aber sie zahlen auch dann nichts. Sie sind arm. Sie sind zu arm für eine gute Versicherung. Sie kaufen sich einen SUV und haben dann kein Geld mehr. Hätte mich ein gut versicherter Millionär umgefahren, wäre ich jetzt selber reich, sagte der Anwalt. Man sollte sich einen betuchten Fahrer aussuchen, wenn man sich schon von der Straße schießen lässt. Es klang wie ein Vorwurf. Der nette Anwalt hatte plötzlich kein Interesse mehr an dem Fall.
Selbst 20.000 Dollar nicht bezahlt
Die Versicherung der Frau wollte selbst die 20.000 Dollar für Krankenhauskosten und Nachbehandlung nicht bezahlen. Sie zweifelte an der Schwere der Verletzung. Wer nach zwei Tagen Krankenhaus entlassen werde, könne so schlecht nicht dran sein, argumentierte die Versicherung. Sie setzte eine Detektivin auf mich an, um das zu beweisen.
Die Detektivin hieß Frau Hu und war chinesischer Abstammung. Sie versuchte mehrfach mich anzurufen, aber der Anwalt riet mir, nicht mit ihr zu sprechen. Ich verstand nicht, warum plötzlich Detektive hinter mir her waren, hinter jemandem, der doch eigentlich Opfer dieses schweren Unfalls war, aber der Anwalt sagte, dies sei so in Amerika. "It's all about money."
Eines Tages klingelte es an meiner Tür. Ich war allein zu Hause. Sechs Wochen waren vergangen seit dem Unfall, und noch immer lag ich benommen im Bett. Ich schleppte mich auf Krücken an die Tür und hielt mich an einem Gitter fest. Die Frau war Asiatin und höchstens 22 und trug einen beigefarbenen Hosenanzug und ein charmantes Lächeln im Gesicht. Frau Hu. Sie grüßte enthusiastisch und sagte, sie sei überrascht, wie phantastisch ich aussehe und wie phantastisch es mir anscheinend gehe und wollte nun von mir hören, dass es mir tatsächlich phantastisch gehe. Ich fragte, wer sie sei und was sie wolle, aber da wich sie schon zurück und machte im Gehen schnell ihre Fotos: Von einem Mann, der sechs Wochen nach einem angeblich schweren Unfall schon wieder aufrecht an der Tür stand und Gäste empfing.
Versicherung zahlt 50.000 Dollar ohne Murren
Ich kann wieder gehen. Ich habe eine weitere Operation hinter mir und etwa 50.000 Dollar Arztrechnungen, die die gewissenhaften deutschen Versicherungen ohne irgendein Murren getragen haben. "Alles Bestens, nur mit dem Sport wird das nichts mehr", sagt mein Orthopäde. "Die Arthrose wird bald einsetzen, dann brauchen Sie wohl ein künstliches Kniegelenk." Mehr sagt er nicht. Dann sind die 90 Sekunden der Konsultation schon um, für die er 400 Dollar kassiert. Ich bitte ihn, seine Diagnose in einem Bericht festzuhalten, weil die gewissenhafte deutsche Versicherung einen Bericht brauche. Das koste 600 Dollar extra, sagt der Orthopäde, der weit über zwei Million Dollar im Jahr verdient. Und er hat dafür jetzt leider keine Zeit. Er sei in Eile.
Er muss schnell los in sein Landhaus am Meer, bevor um 12 Uhr der New Yorker Wochenendverkehr einsetzt.