Presseschau zum Erdogan-Besuch bei Putin "Der Westen erlitt einen hysterischen Anfall"

Der Besuch Erdogans bei Putin schürt in Europa Ängste vor einer russisch-türkischen-Allianz. Die Verbrüderung der Autokraten wird in westlichen Medien mit Sorge betrachtet. In Russland werden die Reaktionen penibel verfolgt.

Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan üben den Schulterschluss. Nach monatelanger Eiszeit haben die beiden Staatschefs am Dienstag einen Neuanfang der bilateralen Beziehungen besiegelt. Bei einem Treffen in St. Petersburg bekräftigten sie ihren Willen zur Wiederbelebung der Handelsbeziehungen.

In Europa schürte die erste Auslandsreise Erdogans nach dem gescheiterten Militärputsch jedoch Ängste: Ist dies ein Zeichen der Entfremdung der Türkei vom Westen? Ein Warnsignal an die EU? Die westliche Presse reagierte besorgt, was wiederrum in den russischen Medien Beachtung findet.

Großbritannien: BBC

"Türkei verstört den Westen mit Putin-Besuch", lautet die Schlagzeile bei der britischen BBC. "Angesichts der aktuellen 'Kälte' im Verhältnis zwischen der AKP-Regierung und den USA und EU, ist die Entscheidung Recep Tayyip Erdogans, nach dem gescheiterten Putsch als erstes Russland einen Besuch abzustatten, höchst symbolträchtig."

Deutschland: "Tagesspiegel"

"Mit seiner Reise nach St. Petersburg sendet Erdogan das Signal, dass sich die Türkei jenseits von EU und Nato nach Partnern umsieht. Das heißt nicht, dass die Türkei aus der Nato austritt, wohl aber, dass sie keinen gesteigerten Wert mehr auf die gemeinsame Linie der Allianz legt. Weniger denn je betrachtet sich die Türkei als fester Teil des Westens: Der Umgang mit Erdogan wird für Europäer und Amerikaner noch schwieriger."

Dänemark: "Jyllands-Posten" 

Die rechtsliberale dänische Tageszeitung schreibt am Mittwoch: "Wenn man das Bild vom Treffen der beiden Männer im Konstantin-Palast sieht, muss es allen kalt den Rücken herunterlaufen. Sie sind jeder auf ihre Weise und mit ihrem Hintergrund Repräsentanten von Scheindemokratien, wo Wähler die Möglichkeit haben, zu rituellen Wahlen zusammenzukommen, sich die Gewählten aber soviel Macht sichern, dass sie in Wirklichkeit autokratisch sind. Bislang haben Putin und Erdogan einander in Schach gehalten. Sie können beieinander sicher Ähnlichkeiten sehen, aber sie haben kein Interesse gehabt, den anderen wachsen zu lassen. Diese Beziehung ist gerade dabei, sich zu ändern, und das sollte man wachsam im Auge behalten."

Russland: "Life"

"Der Besuch Erdogans in Sankt Petersburg löste im Westen einen hysterischen Anfall aus", titelte das Nachrichtenmagazin "Life". "Das historische Treffen des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit seinem türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdogan erntete in allen wichtigen westlichen Medien Aufmerksamkeit." Die Urteile würden allerdings auseinander gehen. Während die britischen Medien die Folgen für den Syrien-Konflikt diskutierten, reagierten die Deutschen mit offener Schadenfreude. 

Russland: "Moskowski Komsomolez"

"Es ist ein Bündnis der Einsamen. Putin und Erdogan befinden sich international in einer Situation, die man durchaus als Isolation bezeichnen kann. Für beide geht es darum, diese Lage durch gegenseitige Annäherung zu durchbrechen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hat Russland jetzt die Chance, einen Keil ins Herz der Nato zu schlagen. Die Türkei ist ein sehr wichtiges Mitglied der Allianz. Die Entfremdung Ankaras von Washington und Brüssel ist vorteilhaft für Moskau. Doch die Türkei ist mit dem Westen millionenfach verbunden. Für Ankara kann ein Bündnis mit Moskau letztendlich kein vollwertiger Ersatz sein für eine Allianz mit dem Westen."

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Warum Erdogan wegen Hetze schon im Gefängnis saß

Österreich: "Die Presse"

Aus Wien kommentiert "Die Presse": "Schwarz-Weiß-Analytiker haben bereits eine neue 'Achse der Autokraten' an die Wand gepinselt. Der türkische Präsident treffe Putin, seinen russischen Amtskollegen, in St. Petersburg, um ein Zeichen zu setzen, orakeln sie. Nach dem Putschversuch in der Türkei wende sich Erdogan vom Westen ab und wieder Russland zu, denn von dort habe er keine Belehrungen zu erwarten. Diese pseudoschlaue Erklärung greift zu kurz. Denn das türkisch-russische Tauwetter setzte schon zwei Wochen vor dem gescheiterten Staatsstreich ein. (...) Etwas mehr Gelassenheit wäre angebracht. Anstatt hyperventilierend eine antiwestliche Verschwörung zu wittern, gibt es allen Grund, die Wiederannäherung zwischen der Türkei und Russland wohlwollend aufzunehmen."

Großbritannien: "Financial Times"

"Wladimir Putin ist froh, einen Kollegen, der ebenfalls auf starker Mann macht, gegen die Kritik liberaler Demokraten unterstützen zu können. Zudem nutzt er jede Gelegenheit, einen Keil zwischen die Türkei und ihre Nato-Verbündeten zu treiben. Das bringt Risiken für die westliche Syrien-Politik mit sich. Die Türkei - deren Hauptinteresse darin besteht, die Ambitionen der syrischen Kurden zu einzudämmen - ist zwar im Kampf gegen die IS-Terroristen ein unzuverlässiger Partner, jedoch bot sie bislang einen wichtigen Kanal für Waffenlieferungen an Rebellengruppen, die Syriens Machthaber (Baschar al-)Assad bekämpfen. Sie kommt nun unter Druck, Moskaus Position zu akzeptieren, wonach Assad bei jeder Art von politischem Übergang zunächst im Amt bleiben muss. 

Trotz dieser Risiken können die Gespräche zwischen Russland und der Türkei über Syrien positive Wirkungen haben. Denn es kann keine politische Lösung für diesen Konflikt ohne ihre Beteiligung geben. Und beide Staaten haben ein Interesse, die Belagerung von Aleppo zu beenden, die die Grenzen der russischen Luftwaffe vorführt und zudem zu einem neuen Flüchtlingsstrom in die Türkei führen könnte." 

ivi

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