Sie haben ihm extra eine neue Bühne gebaut. Eine, die weit hineinreicht in die Menge der republikanischen Delegierten im Kongresszentrum in St. Paul, damit er näher dran ist an der Basis. Sie glänzt tief blau und spiegelt die Bilder wider, die sie hinter ihm auf eine riesige Leinwand projizieren: die Flagge, typische amerikanische Landschaften, Heimatkitsch. John McCain gilt nicht gerade als begnadeter Redner, diesen Ruf wird sein Auftritt nun in Minnesota nicht ändern. Was die Menge dennoch auf den Beinen hält, ist die dramatische Lebensgeschichte des Präsidentschaftskandidaten und sein Versprechen, er werde Washington reformieren. Einst überlebte er wie durch ein Wunder Folter und Misshandlung in fünfeinhalb Jahren Kriegsgefangenschaft in Hanoi, nun muss er ein neues Wunder schaffen, um im nächsten Jahr das Oval Office zu übernehmen.
Gestartet als wenig aussichtsreicher Kandidat, hat der inzwischen 72 Jahre alte Senator sich nicht nur in den Vorwahlen durchgesetzt, ihm gelang es in den letzten Wochen gar, den nach acht Jahren George W. Bush demoralisierten Republikaner Zuversicht einzuflössen. "Wir werden gewinnen", rief er ihnen zu. Und: "Kämpft mit mir." Noch zwei Mal wiederholt er den Schlachtruf: "Kämpft mir mir! Kämpft mit mir!" Die Menge der 15.000 Parteifreunde springt auf die Füße, McCains letzten Worte an diesem Abend gehen in ihren Jubelrufen unter. Dann erscheint McCains Frau Cindy auf der Bühne, schließlich seine neue, populäre Vizekandidatin Sarah Palin plus Gatten. Das Konfetti beginnt langsam zu rieseln, fast 100 Kilogramm, Luftballons fallen aus dem Hallenhimmel. Mehr als 100.000 sollen es sein, in Weiß, Rot und Blau natürlich, den Landesfarben. Die markieren gleichzeitig das Ende der Party und den Beginn der kurzen, intensiven Endphase des Wahlkampfes. Die Entscheidung fällt in genau zwei Monaten, am 4. November.
McCain will das Volk mit seiner Lebensgeschichte gewinnen, die in seinen Augen beweist, dass er der bessere, kompetentere, entschlossenere Reformer ist. Wie er den "Change", den Wandel nach Washington bringen will, den er nun genauso verspricht wie sein demokratischer Gegner Barack Obama, obwohl er doch seit 26 Jahren als Senator selbst Teil des Systems ist, ließ er im Vagen. Dafür erzählte er ausführlich, wie er in nordvietnamesischer Gefangenschaft sein Land lieben gelernt habe. "Danach war ich nicht mehr derselbe", sagt er und beschreibt die wundersame Wandlung eines jungen Überfliegers, der weder Tod noch Zorn seiner hochrangigen Militärfamilie fürchtete, der keinem guten Kampf aus dem Weg ging, und aus Spaß zu einem devoten Diener seines Landes wurde. Tausend Mal erzählt, aber dennoch die Quintessenz seiner Wahlkampfkampagne, der ultimative Beleg eines, natürlich seines herausragenden Charakters.
McCain versucht es an diesem Abend mit Zuckerbrot und Peitsche zugleich. Einerseits droht er dem Establishment in Washington, er werde kommen und Wandel bringen. Andererseits verspricht er, über die Parteigrenzen hinaus mit jenen zu arbeiten, die sich für eine wirkliche Verbesserung der Lage einsetzten. Und beides will er besser können als sein demokratischer Rivale. "Ich strecke meine Hand aus zu jedem, der mir dabei hilft, dieses Land wieder in Fahrt zu bringen", sagt McCain, "das habe ich auch in der Vergangenheit getan und ich habe die Narben, um es zu beweisen. Senator Obama hat sie nicht."
Das ist einer der Momente, der den Saal aus den Sesseln reißt. Doch zwischendurch hört sich McCains Rede an wie eine verfrühte State-of-the-Union-Address, ein Sammelsurium kleinerer und größerer Vorhaben, so mitreißend wie das Menü eines Schnellimbisses. McCain verspricht, die Sicherheit des Landes zu garantieren, was immer es koste. Er will eine unabhängige Energieversorgung und bessere Schulen, weniger Steuern und einen schlankeren Staat. Mehr Jobs und eine bezahlbare Krankenversicherung. Nichts, woraus sich eine Schlagzeile basteln ließe. Und natürlich vergisst er nicht zu erwähnen, dass er die inzwischen scheinbar erfolgreiche Offensive im Irak unterstützte, als das noch wie politischer Selbstmord aussah. Verglichen mit dem berauschenden Auftritt von Sarah Palin am Tag zuvor, wirkt McCain bisweilen wie der Opa, der mal wieder Anekdoten vom längst vergangenen Krieg erzählt.
Fast die gleiche TV-Quote wie Obama
Auf dem "Club Level" im Energy Center in St. Paul gucken sie zwischendurch immer wieder ungeduldig auf ihre Handys. Hier ist das Fußvolk versammelt. Die, die nicht nach unten in den Saal durften, oder keine Karten mehr bekommen haben. Wie lange soll das noch gehen?, fragen sie sich. Sie halten ihre Hände ruhig und bleiben auf den Stühlen sitzen, auch wenn unten im Saal die Delegierten aus Texas ihre Stetsons wild durch die Luft wirbeln. Das ist wichtig, denn dort suchen schließlich die Kameras nach Bildern. 37,2 Millionen Zuschauer verfolgten Palin im TV, nur drei Millionen weniger als bei Obama. Von solch einer Quote kann McCain nur träumen, aber er braucht sie eigentlich auch nicht. Palin ist nun der Rockstar der Partei, McCain kann sich darauf konzentrieren, die Energie zu kanalisieren, die seine gewagte Kandidatinwahl an der Parteibasis freigesetzt hat.
Das Geld fließt seitdem in seine einst gähnend leere Wahlkampfkasse, mehr als zehn Millionen Dollar in weniger als einer Woche. Schon direkt nach ihrer Nominierung war McCain wieder draußen im Land, bei einem seiner Town Hall Meetings, bei denen er die Fragen aus dem Publikum beantwortet, statt lange Reden zu halten. Das liegt ihm viel besser, damit ist er in diesem Wahlzyklus so viel weiter gekommen, als das die meisten vor einem Jahr noch vorausgesagt hatten. Das Rennen zwischen McCain und Obama bleibt offen. Und wer den Republikaner noch immer unterschätzt, hat schnell verloren.