George Orwells Dystopie-Klassiker "1984" ist ein Meilenstein der Literatur über die Gefahren von Totalitarismus, Unterdrückung und Überwachung – so interpretieren es zumindest die meisten – inklusive Orwell selbst. Doch spätestens seitdem Russland die Ukraine überfallen und Putins Propaganda-Maschinerie nochmals einen Gang höher geschaltet hat, tut der Kreml offenbar alles dafür, den Westen zu diffamieren – und sei es mit einer völlig aus der Luft gegriffenen Interpretation eines knapp 80 Jahre alten Buchs.
Russische Diplomatin: "George Orwell hat über euch geschrieben, nicht über uns!"
Maria Sacharowa, Diplomatin und Sprecherin des russischen Außenministerium behauptete am Samstag auf einer öffentlichen Veranstaltung: "Viele Jahre lang haben wir geglaubt, dass Orwell die Schrecken des Totalitarismus beschrieben hat. Dies ist einer der größten globalen Fakes ... Orwell schrieb über das Ende des Liberalismus." Er habe beschrieben, wie der Liberalismus die Welt in eine Sackgasse führt, so Sacharowa weiter.
Eine eigenwillige Interpretation der Dystopie "1984". Das Werk gilt als eine der eindringlichsten Warnung vor totalitären Machtstrukturen und der allumfassenden Überwachung der gesamten Bevölkerung.
Orwell schrieb sein wohl bekanntestes Buch zwischen 1946 und 1948. Seit seiner Veröffentlichung 1949 gilt es als eines der prägendsten Science-Fiction-Romane der Neuzeit. Der Brite beschreibt eine Welt im Jahr 1984 – zur Zeit des Verfassens ferne Zukunft. Die Welt die Orwell beschreibt vereint die diktatorische Machtstruktur faschistischer Regime mit den gesellschaftlichen Normen streng sozialistischer Staaten. Schon kurz nach dem Erscheinen des Romans zogen Kritiker und Leser klare Parallelen zu der NS-Diktatur in Deutschland und dem stalinistischen Russland.
Zentrale Motive in Orwells Geschichte sind die der totalen Überwachung und der Propaganda. Durch letztere wird die Bevölkerung auf Kurs gehalten und von innenpolitischen Problemen, wie mangelnder Versorgung abgelenkt. Dabei wird durch ein eigens dafür konzipiertes "Ministerium für Wahrheit" die Geschichte verfälscht, gekürzt oder umgeschrieben und auf einen jeweils passenden Feind bezogen.
Die Propaganda geht dabei bis zu einer Gehirnwäsche, durch die die Bürger des Staates nicht einmal mehr das glauben, was sie selbst sehen oder was wissenschaftlich belegt ist – im Zweifel weiß die Regierung es besser als man selbst. Presse- oder Wissenschaftsfreiheit existieren nicht. Wer auf Regierungslinie bleibt, führt ein ärmliches Leben, ohne zu begreifen, dass es ihm an den grundlegendsten Dingen fehlt, wer aufbegehrt wird gefangen genommen und solange gefoltert, bis er der Führung folgt oder getötet.
Parallelen zwischen Russischer Propaganda und Orwells "1984"
Sacharowa ging auf der genannten Veranstaltung auf eine Frage eines Zuschauers ein, wie man als russischer Staatsbürger reagieren solle, wenn Verwandte oder Bekannte im Westen Russland mit der dystopischen Welt aus Orwells Roman vergleichen. Die Diplomatin wütete: "Orwell hat nicht über die UdSSR geschrieben, es ging nicht um uns. Er schrieb über die Gesellschaft, in der er lebte, über den Zusammenbruch der Ideen des Liberalismus." Und fügt hinzu, Russen sollten ihren Bekannten sagen: "Sagen Sie ihnen: Ihr im Westen lebt in einer Fantasiewelt, in der ein Mensch einfach so gecancelt werden kann."
Mit Blick auf die Massenverhaftungen bei Anti-Kriegs-Demonstrationen in Russland während der ersten Tage der Invasion wirkt dies mehr als zynisch. Bereits kurz nach dem Überfall auf die Ukraine zogen viele Beobachter eine Parallele zwischen der russischen Kriegspropaganda und dem Mantra des Regimes in Orwells Buch. Während der Kreml den Krieg bis heute als "Spezialoperation" tituliert und behauptet, die Ukraine müsse "entnazifiziert" werden, und Russland würde sich nur gegen einen Aggressor verteidigen, kam vielen das zentrale Mantra des Regimes in "1984" in den Sinn: "Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke".
Trotz oder vielleicht wegen dieser Propaganda-Anstrengung stiegen in den vergangenen Monaten die Verkaufszahlen von "1984" in Russland stark an – bis zu 75 Prozent. Ähnliches war in Belarus im Laufe des vergangenen Jahres zu beobachten, als der belarussische Staatsapparat immer rabiater gegen pro-demokratische Demonstranten vorging. Das Buch wurde schließlich in Belarus verboten.
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Orwell betonte selbst, er schreibe gegen den Totalitarismus
Viktor Golyshev, ein prominenter Sprachwissenschaftler, der den Roman ins Russische übersetzt hat, widersprach Sacharowas Behauptungen und sagte, der Roman handele "keineswegs" vom Niedergang des Liberalismus.
"Ich denke, es ist ein Roman über einen totalitären Staat. Als Orwell ihn schrieb, waren totalitäre Staaten bereits im Begriff, zu zerfallen, aber zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg gab es in halb Europa totalitäre Regierungen. Zu dieser Zeit gab es keinen Niedergang des Liberalismus, ganz und gar nicht", so der Übersetzer.
Es wäre nicht das erste, dass die russische Regierung gegen einen vermeintlich scheiternden Liberalismus wettert. Bereits 2019 erklärte der russische Präsident Wladimir Putin der Financial Times, er halte den Liberalismus für "obsolet".
Und was sagte der Autor selbst zu seinem Werk? Orwell war bekennender Sozialist, warnte aber immer wieder vor den gesellschaftlichen Gefahren etwa in der Sowjetunion. In seinem Essay "Why I write" (dt.: Wieso ich schreibe) betonte er:
"Jede Zeile meiner ernsthaften Arbeit, die ich seit 1936 geschrieben habe, war direkt oder indirekt gegen den Totalitarismus und für den demokratischen Sozialismus, wie ich ihn verstehe. Es ist einfach eine Frage, auf welcher Seite man steht und welchen Ansatz man verfolgt. Und je bewusster man sich seiner politischen Einstellung ist, desto eher hat man die Möglichkeit, politisch zu handeln, ohne seine ästhetische und intellektuelle Integrität zu opfern."
Quellen: The Guardian, BR24.de, Arte-Dokumentation, George Orwell: "Why I write", Veranstaltung mit Maria Sacharowa