Dieser Beitrag erschien zuerst bei NTV.de
Startups mit Sitz in Russland haben es schon immer schwer gehabt, Geld von internationalen Investoren einzusammeln. Das war auch schon vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine so. Seit dem 24. Februar 2022 ist es für junge russische Unternehmen allerdings noch schwieriger geworden. Wie sehr sich inzwischen nicht nur Investoren, sondern auch das internationale Startup-Ökosystem von jungen russischen Unternehmen distanzieren, zeigt der Fall von Immagram.
Nachdem das Unternehmen im November vergangenen Jahres einen Wettbewerb auf der angesehenen Branchen-Konferenz Slush in Helsinki gewonnen hatte, ist den Gründern kurze Zeit später der mit einer Million Euro dotierte Preis wieder aberkannt worden. Konkret ging es dem Veranstalter laut einer Mitteilung weniger darum, dass die Gründer aus Russland sind. Vielmehr wurde das Geschäftsmodell kritisiert. Die Plattform des Unternehmens vermittelt unter anderem russische IT-Spezialisten in andere Länder.
"Investitionen in russische Startups wurden auch vor dem Krieg von internationalen Investoren schon als riskant eingestuft", sagt Stéphane Timmer, Professor für International Management an der IU Internationalen Hochschule, im Gespräch mit ntv.de. Zum einen gingen Geldgeber in Russland ein hohes Reputationsrisiko ein. "Bei russischen Startups ist es oft schwierig, herauszufinden, wer genau dahintersteckt", erklärt der ehemalige Investmentbanker, der mehrere Jahre für eine russische Bank in Moskau tätig war.
Zum anderen sei das politische, rechtliche und wirtschaftliche Risiko von Investments höher als in anderen Ländern. "Es gibt in Russland ein erhöhtes Risiko für staatliche Einmischung", sagt Timmer. So geschehen ist das etwa bei der russischen Version von Facebook, VKontakte. Ihre Gründer mussten ihre Anteile an den Staat verkaufen, weil sie bestimmte Nutzerdaten nicht an die Sicherheitsdienste weitergeben wollten. Hinzukomme, dass Schwellenländer sowieso volatiler sind. Das Land hat in den vergangenen Jahren mehrere Finanzkrisen erlebt. "Es gab jeweils unterschiedliche Gründe für diese Krisen. Sie alle zeigen aber, wie verletzlich Russlands Wirtschaft ist."
IT-Experten in Russland locken Investoren an
Trotz all dieser Risiken sind die Investitionen bis 2020 zunächst gestiegen. Internationale Inkubatoren sind aktiver geworden. Investoren hat nicht nur ein wachsender Endverbraucher-Markt angelockt. Gerade auch die vielen jungen, klugen Software-Entwickler des Landes haben dafür gesorgt, dass einige Geldgeber ihre Sorgen beiseitegewischt haben. Besonders im IT-Bereich gehören russische Startups bislang zu den innovativsten weltweit. Hochbegabte Programmierer sind die größte Stärke des russischen Startup-Ökosystems.
Das Jahr 2020 war wegen der Corona-Pandemie allgemein ein schlechtes Jahr für die Branche. Danach aber profitierten alle – auch russische Startups – von niedrigen Zinsen und einer hohen Liquidität im Markt. Der russische Risikokapitalmarkt wuchs laut Statista 2021 auf drei Milliarden Euro – damit konnte er sich im Vorjahresvergleich mehr als verdreifachen.
Timmer fällt mit Blick auf die Statistik auf, dass genau in diesem Jahr mehr Geld von internationalen Investoren kam als von russischen. Ihr Interesse galt allerdings hauptsächlich einigen wenigen großen Later-Stage-Startups. Diese Unternehmen sind bereits etabliert am Markt und erwirtschaften in der Regel auch Gewinne.
Es gab zwar auch mehr Geld für Early-Stage-Startups von russischen Gründern, oftmals allerdings dann vorwiegend für solche mit Sitz in anderen Ländern. "Das Volumen von internationalen Investitionen in Early-Stage-Startups mit Sitz in Russland hingegen ist niedrig geblieben", sagt Timmer. Das sei schon immer der Schwachpunkt des russischen VC-Sektors gewesen. Dabei sind Gründer in dieser Phase oft dringend auf externes Kapital angewiesen, weil die Gewinnzone noch nicht in Sicht ist.
Investitionen brechen im ersten Halbjahr 2022 ein
Nach dem russischen Angriffskrieg ist es auch für etablierte Unternehmen schwieriger geworden, sich Geld zu besorgen. "Russische Startups können keine internationalen Zahlungen aufgrund des SWIFT-Ausschlusses mehr senden oder empfangen," sagt Timmer. Ihnen werde die Expansion damit erschwert, damit steige das Risiko, sich nicht mehr refinanzieren zu können und pleitezugehen. Für die weniger etablierten Early-Stage-Startups kommt noch hinzu: Ohne ausländische Investoren sind sie auf russische Private-Equity-Firmen oder einen Börsengang an der russischen Börse angewiesen. Doch die Bewertungen dort sind schlecht.
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Auch das Silicon Valley hat sich zurückgezogen. Der größte US-amerikanische Startup-Accelator Y Combinator, der Startups in der Gründerphase mit Geld, Ratschlägen und Kontakten zur Verfügung steht, hat etwa alle russischen Gründer von seinen Programmen ausgeschlossen.
Die aktuellsten Zahlen verheißen nichts Gutes: Der Wert der Risikokapitalinvestitionen in russische Startups belief sich nach der ersten Jahreshälfte 2022 nur noch auf 658 Millionen US-Dollar. Damit war er deutlich niedriger als im entsprechenden Vorjahreszeitraum, als noch 1,1 Milliarden US-Dollar in russische Startups flossen.
"Es wird wahrscheinlich Jahre dauern, bis sich das Startup-Ökosystem von diesen Einschnitten wieder erholt", sagt Timmer. Doch damit das passieren kann, müssen nicht nur die Investoren, sondern auch die IT-Kräfte wieder nach Russland zurückkehren, die im vergangenen Jahr in Scharen das Land verlassen haben.