Krieg in der Ukraine Russlands Vormarsch stockt: stern-Experte erklärt, wie Putin seine Taktik jetzt ändern könnte

Krieg in der Ukraine: Russlands Präsident Wladimir Putin sitzt an einem Tisch
Krieg in der Ukraine: Russlands Präsident Wladimir Putin
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Gernot Kramper (stern): Der Kreml hat ein Interesse daran, dass jeder im Westen denkt: Oh, weia. Helfen wir der Ukraine noch mehr, dann droht die Gefahr eines Atomkrieges. // Aber was ist, wenn ihr eigentliches Ziel, hauptsächliches Ziel ist, die ukrainische Armee zu vernichten und das langsam zu machen. // Hyperschall-Raketen ist natürlich was ganz anderes. Die hat Russland mit Sicherheit vor allen Dingen eingesetzt, um zu zeigen, dass sie die nicht nur haben, sondern dass sie auch funktionieren.


Hendrik Holdmann (stern): Im Norden Kiews sollen Flüsse zum Überlaufen gebracht worden sein. Das zeigen diverse Satellitenbilder. Was für eine Art von Kriegsführung ist das?


Gernot Kramper (stern): Erst einmal ist das Überlaufenlassen oder Überfluten eine klassische Methode der Kriegsführung. Das hat in der Antike schon gegeben. Selbst im Mittelalter,  als man viele Sachen nicht konnte, konnte man das. Und das hat man im Ersten und im Zweiten Weltkrieg gemacht, also auf beiden Seiten. Und wozu macht man das in aller Regel? Man macht das eigentlich, um eine undurchdringliche Verteidigungzone zu bilden. Das heißt, wo vorher eine flache Wiese war, immerhin mit Straßen, ist auf einmal eine Wasserfläche. Da kommt keiner durch und die kann man besser verteidigen. Das ist die Idee dabei. Jetzt ist hier aber schwer zu ersehen, ist es eine Maßnahme der Verteidigung eigentlich. Ein Angreifer überflutet nicht das Gebiet, wo seine Panzer durch sollen. Hier ist jetzt aber ein bisschen schwer zu erkennen, wer da eigentlich von profitiert und wer das machen sollte. Und deshalb ist es durchaus auch möglich, dass da einfach normale Beschädigung oder Beschädigungen, wie sie im Krieg eben passieren, geschehen sind, wie auch überall um Kiew herum auf einmal Feuer sind. Also da ist ja auch wahrscheinlich keine große Strategie dabei, den Wald abzubrennen. Und hier bei dem Wasser ist das auch so. Das sind ja alles regulierte Flüsse, gerade der Dnepr, dass diese Anlagen beschädigt worden sind. Es ist aber auch einfach wichtig, dass im Kampfgebiet sie vielleicht nicht mehr besetzt werden. Das sind ja Sperrwerke. Und auch in Deutschland ist das nicht so, dass die alle vom Computer gesteuert werden. Da muss dann wirklich jemand raus und muss da irgendwelche Schotten öffnen für Abflüsse sorgen und ähnliche Sachen. Und wenn die keinen Strom mehr haben oder kein Diesel mehr für ihre Generatoren oder einfach sich keiner mehr raus traut oder denen traut, dann kann es auch zu Überschwemmungen kommen. Also mir fehlt im Moment die Fantasie, warum eine der kriegführenden Parteien das wirklich machen sollte.


Hendrik Holdmann (stern): Nachdem Russland eine Vakuum-Bombe eingesetzt hat, sind nun auch Hyperschall-Raketen im Einsatz gewesen. Was genau will Russland damit zeigen?


Gernot Kramper (stern): Die Frage würde ich in zwei Teile nehmen. Die Vakuum-Bomben. Damit will Russland gar nichts zeigen. Das ist eine Art der Technik, wie man eine Bombe zur Explosion bringt, die in Russland sehr kultiviert wird und die man im Westen nicht gemacht hat. Diese sogenannten Vakuum-Bomben, das sind Aerosol-Bomben. Das ist eine Art Luftminen-Explosion, die eine hohe Hitze entwickeln und Druckwellen produzieren. Die USA haben Waffen, die arbeiten ganz ähnlich, die haben den gleichen Effekt. Also wir erinnern uns an den Einsatz der "Mutter aller Bomben" in Afghanistan. Die nutzen bloß ein anderes technisches Prinzip als die Russen. Das sind also keine Aerosol-Bomben, aber es führt zu dem gleichen Effekt. Und das gehört in Russland zur Standardausrüstung. Und das sind nicht nur diese riesengroßen Bomben. Also Russland hat ja das Adäquat den "Vater aller Bomben", sondern das sind 500-Kilogramm-Bomben. Und das geht runter bis zu tragbaren Granatwerfern. Und die benutzen die Ukrainer auch, weil die aus der UdSSR noch stammen. Das heißt, dass wäre eher schwierig und absonderlich, wenn Russland auf den Einsatz dieser Waffen verzichten würde, weil die einfach zur Standard-Bewaffnung dazugehören. Und wenn das bei uns gerade in der Boulevardpresse auftaucht, sind das natürlich die schwereren Waffen – also diese Toss-Raketenwerfer oder 500-Kilo-Bomben. Warum setzt Russland sowas ein? Weil diese Waffen enorm effektiv sind gegen verschanzte Stellung – also gegen Leute im Bunker, Gräben oder in Trümmern wirken die eben stark. Und die gehören da zur Standard-Bewaffnung. Da würde ich jetzt kein großes Signal hinter vermuten.Hyperschall-Raketen ist natürlich was ganz anderes. Die hat Russland mit Sicherheit vor allen Dingen eingesetzt, um zu zeigen, dass sie die nicht nur haben, sondern dass sie auch funktionieren. Das ist ja ein großer Unterschied. Die sind relativ neu diese Systeme. Das ist im Westen auch immer so ein bisschen belächelt worden. Aber das ist so eine umgebaute Iskander-Rakete. Ach, das ist ja gar nichts Neues. Und dann wird sie von so einem altertümlichen, schweren Jäger in die Luft gebracht. Aber nichtsdestotrotz, sie sind wohl in Einsatz gebracht worden und wir können darüber nur spekulieren. Aber ich würde mal klar sagen, die NATO und die Amerikaner wissen ganz genau, welche Rakete die Russen eingesetzt haben und was noch viel wichtiger ist, welche Flugbahn sie genommen haben. Das Wichtige an dieser Rakete ist ja nicht nur, dass sie so schnell ist. Das gab es schon immer, wenn Waffen auf die Erde zurück gestürzt sind, sondern dass sie lenkbar sein soll im Endanflug. Und das wissen wir jetzt nicht. Kann ich auch nichts zu sagen, aber die Amerikaner werden das wissen. Und wenn die das wissen, dann haben die Russen das gemacht, damit sie es wissen. Es ist eine Demonstration, dass sie es können. Und diese Waffen könnten auch nuklear bewaffnet werden. Und die wären dann in fünf Minuten in Paris, um das mal zu sagen. Das ist die Botschaft dahinter. Hier kann man noch dazu kommen, dass ja unterirdische verbunkerte Anlagen damit angegriffen worden sind und ist. Das würde ich jetzt mal vermuten, dass sich diese Art von Waffe besser dafür eignet als Marschflugkörper, die an der Oberfläche explodiert. Es ist also leichter in zu so einem Bunker-Buster umzubauen oder einzusetzen. Aber ich glaube, das ist der sekundäre Effekt.


Hendrik Holdmann (stern): Putin behauptet ja weiterhin, dass der Einsatz in der Ukraine "streng nach Plan" verlaufe. Was läuft denn aus russischer Sicht gut und was eher schlecht?


Gernot Kramper (stern): Nach allem, was wir annehmen und wie ich das sehe, läuft da wenig gut. Das muss man einfach sagen. Auch wenn die russischen Verluste nicht so hoch sind, wie die Amerikaner oder die NATO behauptet, sind das beträchtliche Verluste. Es gibt beträchtliche Schwachstellen in der Kommunikation, der Führung der Truppen. Viele Dinge funktionieren da so nicht. Es gibt große Materialverluste, schnelle Ziele sind nicht erreicht worden und mit Sicherheit hat der Kreml zuerst darauf spekuliert auf einen schnellen Sieg. Es gab sicherlich Plan A. Sie landen da, die Regierung wird gefangen genommen und dann klappt das Land zusammen. Das hat nicht so funktioniert. Dummerweise wissen wir jetzt nicht, wie Plan B aussieht. Und da muss man sagen, da wird im Westen natürlich gerne immer das Beispiel Desert Storm genannt. Und warum bringt man Desert Storm? Weil vollkommen klar ist, dass es nicht zu vergleichen ist. Das ist der Einsatz einer hochgerüsteten Armee gegen eine Armee auf dem Stand der 60er Jahre und dann auch noch mitten in der Wüste. Dass das in der Ukraine so nicht eintreffen wird, ist absolut klar. Das heißt, man etabliert dieses Bild, um dann zu sagen: "Na, die Russen können es nicht." Ich will jetzt nicht sagen, dass sie das können, was sie da machen. Aber wir haben viele auch unrealistische Erwartungen, wie so ein Feldzug aussehen kann. Die werden in das Gespräch gebracht, damit die Russen schlecht dabei aussehen. Und das kann durchaus sein, dass die Russen ganz anders sind. Wer sagt denn, dass sie schnell gewinnen wollen? Wer sagt denn, dass sie schnell Kiew einnehmen wollen? Ich würde das eigentlich auch vermuten. Aber was ist, wenn ihr eigentliches Ziel nur ist – hauptsächliches Ziel ist – die ukrainische Armee zu vernichten und das langsam zu machen. Auf festgefahrene Fronten zu setzen, wo sie die ukrainischen Truppen zusammenschießen können. Da wird so vor allen Dingen auch durch die modernen Waffen, die der Westen geliefert haben, sicherlich nicht alles so funktionieren, wie der Kreml sich gedacht hat. Aber wenn das deren Vorstellung des Feldzugs ist, ist er natürlich etwas geglückter, als wenn ihre Vorstellung sei, sie hätten Kiew in drei Tagen eingenommen. Da muss man ein bisschen vorsichtig sein. Aber es ist offenkundig, dass viele Dinge so nicht laufen, wie Putin sich das vorgestellt hat und die russische Armee auch viel an Nimbus verloren.


Hendrik Holdmann (stern): Recherchen der New York Times haben gerade ergeben, dass russische Truppen unter Versorgungsengpässen, fehlender Luftunterstützung und schlechter Kommunikation leiden. Was ist da eigentlich los?


Gernot Kramper (stern): Das ist ja ohne Frage so. Also der Krieg frisst ungeheuer viel Material, vor allen Dingen die russische Art des Krieges. Also die Russen arbeiten viel mit schwerer Artillerie und auch diese Bataillonskampfgruppen, das die Basis ihrer Kriegsführung, haben eine extrem hohe Feuerkraft. Aber wenn so etwas mal ein Tag im Gang ist, dann reicht es auch nicht, dass ein LKW vorbeikommt und ein paar Munitionskisten wie in so einem Film abgeladen wird. Die verbrauchen richtig was, sobald sie kämpfen. Und die Versorgung der russischen Truppen ist primär eigentlich auf die Eisenbahn abgestimmt und die Armee als Ganzes ist keine Interventionsarmee, sondern die ist eine Landesverteidigungsarmee. Das hört sich jetzt natürlich ein bisschen absurd an, wo sie die Ukraine überfallen haben. Aber die große Situation, für die sie wohl geplant haben, ist nicht wie im Warschauer Pakt – was weiß ich, sie marschieren bis zum Atlantik vor, sondern eher sie müssen sich auf eigenem Territorium verteidigen. Und gerade im Norden steht die Eisenbahn nicht zur Verfügung. Es gibt da auch nur wenige Straßen aus Belarus. Insofern ist das gar kein Wunder. Man muss aber sagen, dazu kommen eben schlechte Kommunikation zwischen den einzelnen Gruppen, zwischen größeren Einheiten. Das hat viel mit fehlender Elektronik, mit viel mit dem fehlenden gesicherten Verbindung zu tun. Das wird es alles geben. Und die Luftunterstützung ist, weil es immer wieder Abschüsse gibt, natürlich geringer, als die Russen sich das sicherlich erfreut haben. Aber noch mal zurück. Was ist hier der Maßstab? Ist der Maßstab die Armee von Saddam Hussein, die mit 60er-Jahre-Panzern unterwegs waren und überhaupt gar keine Flugzeuge, auch kaum Luftverteidigung hatten? Das ist natürlich auch ein irrealer Maßstab. Und wie ich schon gesagt habe, wenn jemand den Krieg hauptsächlich mit Granatwerfern oder diesen Smashwerfern führt, verbraucht er ungeheuer viel Material. Und die Frage ist, wer das jetzt beheben kann. Kiew hat im Moment noch das Glück oder den Vorteil, dass wichtige Widerstandsinseln im Narayen auf den Eisenbahnverbindung sitzen. Also dass die Russen sie nicht wirklich nutzen können. Wenn das zusammenbrechen sollte, wird das natürlich ungut. Und eine andere Frage ist auch, die im Westen viel weniger gestellt wird. Wie sieht denn der Nachschub für Kiew aus? Insbesondere die KiewTruppen? Insbesondere die im Osten des Landes weit weg vom Westen sind? Da gibt es nur wenige Straßen und wenn ich das richtig verstanden habe, haben die Russen in der letzten Woche verstärkt angefangen, die Eisenbahn-Knotenpunkte, die Straßen und die Eisenbahn zu attackieren. Das ist natürlich auch eine Eskalation des Krieges, weil es diese Infrastruktur trifft. Aber es geht darum, dass kein Nachschub mehr in den Osten kommt. Und auch da brauchen Kiews Truppen natürlich, die arbeiten ja mit dem gleichen Material wie die Russen, die brauchen Artillerie-Munition, die brauchen Treibstoff, die brauchen Lebensmittelversorgung und anderes. Und das wird dadurch abgeknipst. Und das Üble ist aber auch, dass über diese Straßen und über diese Eisenbahn geschieht natürlich auch die zivile Versorgung oder die Flüchtlingsströme. Noch kann man ja praktisch in Anführungsstrichen in Kiew in die Bahn steigen und im Westen herauskommen, ohne dass man Angst haben muss, dass jeder zweite Zug attackiert wird. Das kann sich aber natürlich von einem Tag zum anderen ändern. Das ist eine rein russische Entscheidung, das zu machen oder nicht zu machen. Und ich würde erwarten, dass auch Kiews Truppen in vielen Teilen große Probleme haben, Nachschub zu haben, insbesondere für schwere Waffensysteme. Jetzt nicht unbedingt Gewehrmunition und so einen Kleinkram.


Hendrik Holdmann (stern): Die NATO und Russland bei einem Chemiewaffeneinsatz mit "schwerwiegenden Konsequenzen" gedroht. Was könnte die NATO beim Einsatz von Massenvernichtungswaffen denn wirklich machen? Sie hat ja einen Eintritt in den Krieg konkret ausgeschlossen.


Gernot Kramper (stern): Also den Eintritt in den Krieg halte ich dann auch weiterhin für extrem unwahrscheinlich. Also selbst wenn Chemiewaffen eingesetzt worden sind. Aber man könnte natürlich neben den verschärften Sanktionen und noch mehr Leuten auf diesen Listen, anfangen in stärkerem Maßstab Großmaterial nach Kiew zu liefern. Es ist ja viel über diese Flugzeuge gesprochen worden, was ich jetzt nicht für die gute Idee halte, aber man würde im Osten Europas und in Ex-Jugoslawien können eben Munition für Raketen, Raketenwerfer – also dieses ganze Zeug, was auf der UdSSR-Technik noch basiert, kann man eben besorgen, aufarbeiten lassen, produzieren lassen. Das ist ja auch für den Syrienkrieg gemacht worden und dieses Material noch stärker als es bisher geschieht, in die Ukraine bringen. Ich selber halte aber den Chemiewaffeneinsatz für extrem unwahrscheinlich, jedenfalls im Militärischen. Wieso? Chemiewaffeneinsatz, wenn der passiert, wird es eher eine False-Flag-Operation sein. Das heißt, eine Seite macht es und versucht es so aussehen zu lassen, als ob die andere das macht. Weil militärisch hat der punktuelle Einsatz von Giftgas überhaupt gar keine Wirkung. Also um ein Dörfchen jetzt zu erobern, muss niemand – und insbesondere die Russen nicht – Giftgas einsetzen. Dieses Dorf können sie vollkommen mit Artillerie oder aus der Luft oder mit den genannten Aerosol-Waffen zerstören, ohne dass es diesen Aufschrei gibt, wie es bei bakteriologischen oder Chemiewaffen passiert. Und anders sähe es natürlich aus, wenn man diese Art von Waffen für große Operation benutzt, so wie im Ersten Weltkrieg. Wenn das passiert, ist es sicherlich keine False-Flag. Aber das erwartet ja im Ernst auch gar keiner. Also dass praktisch an ganzen Frontabschnitten Chemiewaffen oder biologische Waffen eingesetzt werden, halte ich extrem für unwahrscheinlich. Und wenn die Russen so im Druck sind, dass sie die absolute Abschreckungskarte ziehen würden, würde ich eher taktische Nuklearwaffen erwarten, weil das die Angst des Westens ist, dass ihre Hauptstädte praktisch atomar vernichtet werden und nicht Chemiewaffen. Deshalb sehe ich das tatsächlich, ehrlich gesagt, nicht so. Und wenn, klar gibt es natürlich immer die Möglichkeit, dass jemand so etwas fingiert. Und dafür reichen dann natürlich auch, dass da irgendwie fünf Soldaten sterben und 15 Dörfler. Bloß militärisch macht das ja überhaupt gar keinen Sinn.


Hendrik Holdmann (stern): Auch ein Atomschlag wird unter anderem von dem früheren russischen Präsidenten Dmitri Medwedew weiter nicht ausgeschlossen. Nur ein Schreckgespenst? Oder ist das wirklich denkbar?


Gernot Kramper (stern): Erst einmal muss man sagen: Das ist die gängige russische Militärdoktrin, die Medwedjew da zitiert hat. Und das machen die Russen jetzt nicht zum ersten Mal. Und das machen sie bei jeder Gelegenheit, so wie umgekehrt die Amerikaner auch schwere Bomber, die atomar bewaffnet werden können, an der Grenze Russlands auffliegen lassen, um die Russen daran zu erinnern, dass sie auch eine Atommacht sind. Es liegt wohl mehr am Naturell des jetzigen US-Präsidenten, dass das nicht mit wüsten Twitter Botschaften kombiniert wird, was bei Trump sicherlich der Fall gewesen wäre. Warum macht Medwedjew das? Naja, man kann ja sagen, das ist ja absolut zu erwarten. Jedes Mal, wenn die NATO erwägt, sich stärker in diesem Krieg zu engagieren, gar mit Truppen oder irgendwie so, sagt Russland: Dann gibt es aber eventuell den Atomkrieg. Das ist ja auch ein Interesse, dass diese Gleichung sich festsetzt. Der Kreml hat ein Interesse daran, dass jeder im Westen denkt: Oh, weia. Helfen wir der Ukraine noch mehr, dann droht die Gefahr eines Atomkriegs. Deshalb machen die jede Gelegenheit, um zu sagen: Hallo, wenn ihr mehr macht, dann sind wir eine Atommacht. Das ist ja die Abschreckung. Weil wenn Russland keine Atommacht wäre oder die Atomwaffen nicht einsetzen würde, würden doch manche NATO-Staaten darauf drängen, dass wir wirklich mit eigenen Truppen da engagiert sind. Und was ist bei Medwedjew jetzt passiert? Da ist ja jemand im Westen auf die Idee gekommen zu sagen: Naja, wir schicken einfach Truppen in die Ukraine. Aber wir nennen das nicht Panzergruppe NATO, wir nennen das Friedensmission. Und dann sind da auch unsere Soldaten, aber das nennen wir Friedensmission. Und dann hat der Medwejdew natürlich sofort gesagt: Na, wenn das passiert, dann wollen wir euch mal daran erinnern. Wir können auch Atomwaffen einsetzen. Das ist praktisch ein rhetorisches Spiel und ist jedes Mal zu erwarten, und passiert auch jedes Mal, wenn der Westen sich überlegt, irgendwelche imaginären Grenzen des Kreml da zu überschreiten. Eine ganz andere Frage ist, ob in diesem Krieg überhaupt Atomwaffen eingesetzt werden können, unabhängig von diesem Spiel der Rhetorik. Und ja, da muss man sagen: Das ist durchaus möglich. Also falls der Westen sich tatsächlich stärker engagieren würde oder Truppen schicken würde, müsste man damit rechnen, dass die Russen eventuell nicht Berlin bombardieren oder so – wie manche ängstliche Leute schon vermuten – sondern dass sie taktische Atomwaffen in der Ukraine auf ein militärisches Ziel einsetzen. Das hat auch wenig Fallout, wenn das unterirdisch explodiert. Aber um zu zeigen, dass sie diese Grenze durchaus überschreiten würden. Also eine "politische Bombe", wenn man so will und weniger eine militärisch-kriegsentscheidend Bombe. Aber diese Option würde ich nicht für unmöglich halten. Weil wir denken beim Atomkrieg immer sofort: Oh, Moskau weg. Paris genuked oder irgendwie so etwas. Das geht hier aber auch dummerweise wesentlich, wesentlich kleiner. Wie ich schon gesagt habe: Eine taktische Atombombe, die auf einem Flughafen unterirdische Hangars trifft, dass es auch auch mit Fallout verbunden und ist eine Atombombe. Aber es ist jetzt nicht so etwas wie Hiroshima oder ähnliches.

Überflutungen bei Kiew, Einsatz von Hyperschallraketen und Atomschlag-Drohungen – seit Wochen tobt der Ukraine-Krieg mit Waffen und auf verbaler Ebene. stern-Militärexperte Gernot Kramper analysiert die jüngsten Entwicklungen und erklärt, welche Ziele Putin wirklich verfolgen könnte.
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