"Einer muss den Frieden beginnen. Wie den Krieg", schrieb der Wiener Schriftsteller Stephan Zweig einmal, und wenig erhofft sich Europa derzeit mehr als ein Ende des Ukraine-Kriegs. Außer vielleicht Russland. Der Aggressor hat wenig Interesse daran, dass die Waffen schweigen. Außer zu Bedingungen, die für die ukrainische Führung unannehmbar sind.
Nun jedoch, mitten in der festgefahrenen Situation, äußert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj neue Ideen.
In der US-Zeitung "Philadelphia Inquirer" skizziert er seine Bedingungen für einen Frieden mit Russland. Danach müsse die Ukraine als Nation erhalten bleiben und dazu Existenzgarantien erhalten. Etwa über eine Nato-Mitgliedschaft. Ein wirklicher Sieg sei es, wenn "es Russland nicht erlaubt würde, die Ukraine völlig zu zerstören", so Selenskyj. Zudem müsse der Kreml für die verursachten Schäden Wiedergutmachung leisten.
Verzichtet Selenskyj etwa auf Territorien?
Neu an den Äußerungen des Kiewer Präsidenten ist, dass er keine territorialen Rückforderungen erhebt. Bislang hatte Selenskyj darauf bestanden, dass sich Russland aus allen eroberten Gebieten zurückzieht, und sie an die Ukraine, dem rechtmäßigen Besitzer zurückgibt. Inklusive der 2014 von Moskau annektierten Krim. Auch die ukrainische Bevölkerung ist nicht bereit, Russland Gebiete zu überlassen.
Das Nichtpochen auf die Gebietsrückgabe muss nicht heißen, dass die Ukraine tatsächlich gewillt ist, auf ihr angestammtes Land zu verzichten. Der Osteuropa-Experte der "Zeit", Maxim Kireev, sieht in der Auslassung dennoch einen möglichen Strategiewechsel: "Es gibt jetzt offenbar die Bereitschaft, von Maximalforderungen Abstand zu nehmen. Bislang wollte die Ukraine nicht mit Moskau verhandeln, solange deren Truppen auf ukrainischem Territorium stehen. Nun scheint es wichtiger zu werden, das Land zu erhalten, als irgendwelche Städte und Gebiete zurückzuerhalten", so Kireev im Podcast "Was jetzt".
"Wir sind nicht bereit, Kompromisse in wichtigen Dingen einzugehen"
Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 halten die Kreml-Truppen rund ein Fünftel der Ukraine besetzt: Donezk und Luhansk im Osten des Landes, sowie Cherson und Saporischschja im Süden. Mittlerweile hat die Moskauer Führung die Regionen in die Föderation "eingegliedert", obwohl keine von ihnen vollständig vom russischen Militär kontrolliert wird.
Um den Konflikt zu beenden, werden immer wieder Forderungen laut, den aktuellen Frontverlauf einzufrieren. Die Ukraine aber lehnt dies bislang ab. Selenskyjs Stabschef Andrij Jermak sagte jetzt bei einem Besuch in den USA: "Wir sind nicht bereit, Kompromisse bei den sehr wichtigen Dingen und Werten einzugehen. Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, territoriale Integrität, Souveränität."
Unannehmbare Forderungen aus Moskau
Im Wesentlichen sind dies genau die Punkte, die der russische Präsident Wladimir Putin der Ukraine nicht zugestehen will. Auf seiner Forderungsliste für einen Frieden steht, dass die Ukraine auf die vier besetzten Regionen verzichten und sich von dort vollständig zurückziehen solle. Zudem habe die Restukraine neutral zu sein, dürfe also nicht der Nato oder der EU betreten. Außerdem müsse das Land seine Waffen abgeben sowie "entnazifiziert" werden. Hinter der letzten Formulierung steht die Forderung des Kreml, die Kiewer Führung durch eine moskaufreundliche Regierung zu ersetzen.
Für das angegriffene Land sind diese Voraussetzungen unannehmbar, da sie die Rest-Ukraine zu einem Wurmfortsatz Russlands degradieren würde. Sogar einen zeitlich begrenzten Waffenstillstand, wie ihn nun der ungarische Regierungschef Victor Orban bei seinem Besuch in Kiew vorgeschlagen hat, schließt Selenskyj aus. Seiner Ansicht nach werde der Feind eine Pause nur dazu nutzen, seine Armeen aufzufrischen. Direkte Gespräche mit Moskau würden zudem keinen echten Frieden bringen: "Es ist unmöglich, mit der einen Hand der Ukraine zu helfen und mit der anderen Putins Hand zu schütteln", so Selenskyj im "Philadelphia Inquirer".
Keine Entscheidung auf dem Schlachtfeld
Selenskyj hatte Ende Juni auf dem EU-Gipfel angekündigt, noch in diesem Jahr sowohl einen Friedensgipfel zu organisieren, als auch einen Friedensplan vorzustellen. Zeit wäre es. Nach fast zweieinhalb Jahren Krieg wird immer offensichtlicher, dass das Schlachtfeld kaum noch für eine Entscheidung taugt.
Quellen: DPA, "Philadelphia Inquirer", ZDF, "El Pais", "Guardian", "Kyiv Independent"